Kritik an unendlichen Mengen
Cantors Mengenlehre wurde von seinen Zeitgenossen in ihrer Bedeutung kaum erkannt und keineswegs als revolutionärer Fortschritt angesehen, sondern stieß bei manchen Mathematikern, etwa bei Leopold Kronecker, auf Ablehnung.
Einer der Gründe für die Ablehnung war der zunächst nicht einleuchtende Umstand, dass unendliche echte Teilmengen gleich groß wie die gesamte Menge sein können.[1] Bis Cantor hielten es die klügsten Köpfe aber auch prinzipiell für unmöglich, dass ein Ding, selbst wenn es nur in Gedanken existiert wie eine Menge, unendlich viele Bestandteile haben kann:
- Aristoteles lehrte, dass keinerlei vollendetes Unendliches möglich sei (nur – wie er es nannte – „potenzielles“ Unendlich in dem Sinne, dass man immer weiter zählen kann).
- Carl Friedrich Gauß protestierte „gegen den Gebrauch einer unendlichen Größe als einer vollendeten, welches in der Mathematik niemals erlaubt ist. Das Unendliche ist nur eine façon de parler [Sprechweise], indem man eigentlich von Grenzen spricht, denen gewisse Verhältnisse so nahe kommen als man will, während anderen ohne Einschränkung zu wachsen gestattet ist.“
- Analog Henri Poincaré:
Aktuales Unendlich existiert nicht. Was wir „unendlich“ nennen, ist nur die endlose Möglichkeit, neue Objekte zu konstruieren, egal, wie viele bereits existieren.[2]
- Ludwig Wittgenstein hielt Cantors Mengenlehre für falsch. Es sei unsinnig, von „allen Zahlen“ zu sprechen. Mathematik sei nur das, was man in endlich vielen Schritten berechnen oder herleiten könne. Cantors Nachweis, dass es mehr reelle als natürliche Zahlen gibt, hielt Wittgenstein für „Hokuspokus“.
- Herrmann Weyl erachtete es als „Sünde“, dieselbe Schlussweise wie im Endlichen auf unendliche Mengen anzuwenden. Auftretende Widersprüche seien die Quittung dafür.
Im 20. Jahrhundert wurden die Widersprüche beseitigt und Mengen wurden zur Grundlage der Mathematik. – Die mit großem Nachdruck vorgebrachten Einwände der berühmten Denker waren letztlich doch nicht haltbar.
Heute
Nur wenige Mathematiker (Konstruktivisten) kritisieren heute noch unendliche Mengen:
Sobald man das Unendliche als vollendetes Ganzes zu begreifen versucht, sprengt man den Rahmen der intuitiven Vorstellungskraft und des logischen Denkens.[3]
Man kann sich für die axiomatische Mengenlehre nicht auf eine konstruktive Theorie berufen, wie man das bei den Axiomatisierungen der Arithmetik tun kann. M. E. folgt daraus, dass die axiomatischen Mengenlehren ein bloßes Phantasieprodukt sind. ... Da man beliebige axiomatische Theorien aufstellen kann, ist dagegen nicht viel einzuwenden, es bleibt bloß Sinn und Zweck dieses Tuns völlig dunkel.[4]
Meine Meinung
Für mich sind unendliche Mengen wie ℕ und ℝ etwas Einfaches und Naheliegendes. Von heute aus betrachtet, erscheint mir kaum nachvollziehbar, wie so eine einfache Idee nicht schon früher entdeckt wurde und wieso sie so bekämpft wurde.
Mein Fazit
Auch in der Mathematik kann es erbitterten Streit geben, obwohl rein logisch nicht gerechtfertigt.
Weiter
Weblinks
Historische Meinungen pro und contra unendliche Mengen in der englischen Wikipedia:
- Artikel „Controversy over Cantor’s theory“
- Artikel „Set theory“, Abschnitt „Controversy“
- Artikel „Actual and potential infinity“
Quellen
[1] | Ordnung in den Unendlichkeiten (PDF), Spektrum der Wissenschaft, 3/2021, S. 78 (im PDF S. 5) |
[2] | Poincaré in Morris Kline: Mathematics. The Loss of Certainty, Oxford, 1982 laut englischer Wikipedia – „Actual infinity does not exist. What we call infinite is only the endless possibility of creating new objects no matter how many exist already“. |
[3] | Rudolf Taschner: Lehrgang der konstruktiven Mathematik. 1. Teil: Zahl und Kontinuum. Wien: Manz, 1991, S. 162 |
[4] | Paul Lorenzen: Methodisches Denken. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1. Aufl. 1974, S. 46– |