Mario Sedlak
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Physik, Mathematik und Wirklichkeit

Über die Beziehung von mathematischen Aussagen zu Aussagen über die Wirklichkeit, den Unterschied von Modellen und Wirklichkeit und wieso diese „Haarspalterei“ meiner Meinung nach wichtig ist

Obwohl ich Mathematik studiert habe, habe ich in den Vorlesungen auf der Uni kaum etwas über die Beziehung der Mathematik zur Wirklichkeit gehört. Ich finde es ganz wichtig, darüber Bescheid zu wissen. Man braucht nicht gleich ein Philosophie-Studium anzufangen, um das Wesentlichste zu begreifen, dass man es nämlich immer nur mit Modellen der Wirklichkeit zu tun hat, nicht mit der „Wirklichkeit an sich“. Das hört sich so selbstverständlich an, aber es hatte Jahrtausende gedauert, bis man nichteuklidische Geometrien entdeckt hat – obwohl sie, im Nachhinein betrachtet, gar nicht so schwer zu konstruieren sind. Man dachte einfach, dass man mit den euklidischen Axiomen die „Wirklichkeit an sich“ beschreibt, was eine enorme Denkbarriere für das Entdecken von alternativen Geometrien war. Unter einem Axiom verstand man ja früher eine unmittelbar einleuchtende Aussage. Heute spricht man treffender von Voraussetzungen, die man als Ausgangspunkt für mathematische Ableitungen wählt.

Dass man die „Wirklichkeit an sich“ nie fassen kann, zeigte sich auch darin, dass Einstein nachweisen konnte, dass die euklidische Geometrie in Gravitationsfeldern nicht gültig ist. Wer zuvor behauptete, Euklids Axiome seien „unmittelbar einleuchtend“ und die „Wirklichkeit an sich“, musste danach zugeben, dass alles ein Irrtum war. Genauso kann es einem mit allen Aussagen ergehen, wenn man diese für die „Wirklichkeit an sich“ hält. Daher spricht man besser stets nur von Modellen der Wirklichkeit. Die „Wirklichkeit an sich“ ist prinzipiell nicht zugänglich; letztlich deswegen, weil es keine absolut sicheren Aussagen über die Wirklichkeit gibt, sodass man nie ausschließen kann, ob es nicht ein anderes Modell zur Erklärung derselben Beobachtungen gibt, das aber ganz andere Konzepte verwendet.

Z. B. kann man die Gravitation als eine Fernkraft auffassen, wie es Newton tat. Als die Feldtheorie aufkam, formulierte man dasselbe Gesetz als Wirkung des Gravitationsfeldes. Viele Philosophen fanden plötzlich Newtons Gesetz sehr einleuchtend – zuvor bemängelten sie, dass nicht vorstellbar ist, wie etwas über die Ferne wirken kann (was aber genaugenommen genauso leicht oder schwer vorstellbar ist, wie dass Körper eine Wirkung aufeinander ausüben, wenn sie sich berühren). Noch schwerer zu verstehen ist für manche Leute das Prinzip der kleinsten Wirkung, als welches man Newtons Gesetz noch äquivalent formulieren kann. Es besagt, dass ein Körper im Gravitationsfeld unter allen denkbaren Bahnen jene wählt, bei der eine bestimmte physikalische Größe (die Wirkung) minimiert wird.[1] Wer denkt, zuverlässige Aussagen über die Wirklichkeit seien die „Wirklichkeit an sich“, hat hier oft Unbehagen, weil er sich nicht vorstellen kann, dass Planeten einen Computer haben, der alle Wege durchrechnet und dann einen bestimmten einschlagen.

Mir genügt es jedoch, zuverlässige Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, egal auf welche Weise. Mehr als das kann man prinzipiell nicht erreichen – warum sollte man daher danach streben? Was will man mehr, als die Wirklichkeit vorhersagen zu können?

Schließlich passierte es noch, dass Einstein ein neues, verbessertes Modell der Wirklichkeit der Gravitation vorlegen konnte. Seinem Konzept zufolge ist Gravitation die Geometrie des Raumes. Das gefällt vielen Theoretikern so gut, dass sie vergessen, dass man dieses Modell zwar als sehr bewährt aber nicht als endgültig ansehen darf. Es könnte so sein, dass alles nur so aussieht, als ob der Raum gekrümmt ist. Selbstverständlich hat es keinen Sinn, ein zuverlässiges Modell zu verwerfen, wenn man an seine Stelle keine adäquate Alternative stellen kann. Aber man sollte niemals glauben, zu wissen, dass der Raum wirklich gekrümmt ist. Man vergisst damit nämlich, dass es auch ganz andersartige Zugänge geben könnte und wird diese, falls es sie gibt, nie entdecken. Möglicherweise ist das ein wesentliches Problem bei der Vereinigung von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie mit der Quantentheorie.

Schon Mitte des 19. Jahrhunderts hätte man die richtigen Gleichungen für die Lichtausbreitung gefunden, wenn man sie nicht umgehend verworfen hätte, weil man glaubte, dass kein Material so schwingen kann, wie die Gleichungen behaupten.[2] Auch in der aktuellen Forschung werden die Bemühungen zur Vereinigung aller vier Grundkräfte meines Erachtens mit ähnlichen Argumenten angegriffen; z. B. wird argumentiert, dass Theorien mit 11 oder noch mehr Dimensionen nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun haben können (!), weil den höheren Dimensionen offenbar keine physikalische Existenz zugestanden werden kann. Es ist ok, zu sagen, dass Theorien mit dieser oder jener Eigenschaft aller Erfahrung nach in eine Sackgasse münden. Man darf es jedoch nicht prinzipiell ausschließen, dass sich eine solche Theorie als richtig erweist. Wissenschaftstheoretisch ist es nicht nötig, dass in einer Theorie nur Elemente vorkommen, die direkt etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben. Entscheidend sind nur ihre überprüfbaren Folgerungen.

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Quellen

[1] Richard P. Feynman: Vom Wesen physikalischer Gesetze. München: Piper, 1990 (amerik. Original 1967), S. 69
[2] Richard P. Feynman u. a.: Vorlesungen über Physik. Band 2: Hauptsächlich Elektromagnetismus und Struktur der Materie. München: Oldenburg, 1987 (amerik. Original 1963), S. 35