Mario Sedlak
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Über meine Artikel

Diesen Artikel habe ich während meines Mathematik-Studiums geschrieben. Er wurde in der Studentenzeitung Das Theorem, 24/1997, S. 6 veröffentlicht.


Wie lernt man Mathematik?

Die Mathematik ist wie ein riesiger Dschungel. Wenn man an ein bestimmtes Ziel kommen will und den richtigen Weg kennt, dann ist es trivial – kennt man ihn nicht, dann ist es fast unschaffbar. Als Mathematik-Student beobachtet man oft, dass Dinge, die einem früher wie Welträtsel vorkamen, nun selbstverständlich erscheinen. Was aber waren die entscheidenden Erkenntnisse, die einem aus dem Dschungel herausführten? Wieso hielt man das nun Einfache für etwas Kompliziertes? Obwohl diese Fragen nur einen selbst betreffen, kann man sie überraschenderweise kaum beantworten. Ich glaube, es wäre gut, sich einmal Gedanken darüber zu machen, was im eigenen Kopf vorgeht, wenn man Mathematik lernt.

Die erste wirklich harte Nuss, die ich auf der Uni zu knacken hatte, war der zu einem Vektorraum duale Vektorraum. Obwohl ich die formale Definition verstand, kam mir das Ganze irgendwie "komisch" vor. Eine Vektorraumbasis, z. B. des ℝ3, kann man sich gut aufzeichnen und veranschaulichen. Aber wie veranschaulicht man sich auf analoge Weise die Basis des zu ℝ3 dualen Vektorraums? Inzwischen habe ich die dualen Vektorräume verstanden. Was aber war der Grund, weshalb ich so lange daran herumrätselte? Ich weiß es nicht, es gab kein Aha-Erlebnis. Aber ich vermute, es lag daran, dass ich, ohne es zu wissen, mit einer Vorstellung in Konflikt geraten bin, die sich schon in meiner Schulzeit tief in mich einprägte und die mir gar nicht mehr bewusst war. Ich hatte nämlich gelernt, dass Vektoren – im Gegensatz zu Skalaren – gerichtete Größen sind, die man sich durch Pfeile veranschaulichen kann. Diese Vorstellung hatte sich sehr gut bewährt – bis die dualen Vektoren kamen. Diese stellt man sich besser als algebraische Ausdrücke vor. Da aber mein Standard-Vorstellungsbild von Vektoren offenbar schon so fest in meinem Denken verankert war, nahm ich es gar nicht mehr wahr und kam daher auch nicht auf die Idee, dass hier die Ursache für mein Unbehagen mit den dualen Vektoren liegen könnte. Da ich die formale Definition verstand, lag in Wirklichkeit also nur ein unbemerkter Widerspruch meines bisherigen anschaulichen Vorstellungsbildes zu den Tatsachen vor.

Verstand contra Intuition

Seitdem ich das so sehe, erkannte ich, dass es oft so ein Widerspruch ist, der mir den Eindruck vermittelt, einen neuen mathematischen Begriff nicht zu verstehen. Die Intuition arbeitet häufig, ohne dass man bewusst etwas davon mitbekommt. Sie macht sich selbst ein Bild von den abstrakten Dingen, mit denen man in der Mathematik so oft zu tun hat. Nur wenn das nicht möglich ist, weil ein Widerspruch auftaucht, meldet die Intuition ungefragt: "Das geht doch gar nicht!" Einen Widerspruch kann man nie einfach übergehen. Würde man dies an dieser Stelle tun, dürfte man nicht mehr erwarten, dass einem die Intuition bei neuen Problemen aussichtsreiche Lösungsansätze vorschlägt.

Der Verstand kann nur solche Aufgaben bewältigen, über die er genug weiß und für die er eine geeignete Strategie kennt. Die Intuition dehnt das Wissen auf andere Bereiche, die ihr analog erscheinen, aus (selbst dann, wenn sie nicht darum gebeten wurde). Das klappt natürlich um so besser, je geeigneter die intuitiven Vorstellungsbilder sind. Führt ein solches zu einem Widerspruch, muss daher unbedingt ein brauchbareres gesucht werden. Es kann auch sein, dass für verschiedene Zwecke unterschiedliche Vorstellungen geeignet sind. Je mehr verschiedene Zugänge man zu einer Sache hat, um so besser hat man diese verstanden. Die Vorstellungs"bilder" müssen nicht unbedingt geometrische/räumliche Veranschaulichungen sein. Ich spreche nur deswegen von "Vorstellungsbildern", weil mir kein besserer Begriff einfällt. Auch ein "typisches Beispiel" o. dgl. kann eine gute Stütze für die Intuition sein.

Verständnis

Gute Vorstellungsbilder zu finden, dauert oft lange. Ich mache daraus zuweilen eine Frage, die ich einer kompetenten Person stelle. Oder wenn meine Intuition die Aussage eines Satzes anzweifelt, versuche ich irgendwie mit dem, was die Intuition glaubt, auf einen Widerspruch zu kommen, etwa durch den Versuch, ein Beispiel zu konstruieren, an dem sich Intuition und mathematischer Satz widersprechen. Dann erst, wenn man wirklich "sieht", wo der Denkfehler war, ist die Intuition zufrieden. Ein formaler Beweis kann noch so streng exakt sein, für die Intuition ist er nicht überzeugend, wenn er nicht aufzeigt, wo der Denkfehler war.

Man kann seine Intuition natürlich auch trainieren, indem man eine große Zahl von Übungsbeispielen löst. Ich schaue mir aber lieber fertig durchgerechnete Beispiele an, wobei ich mich Schritt für Schritt frage: Wäre ich auch darauf gekommen? Wieso ist diese Vorgehensweise sinnvoll? Ist das der einzige Weg zum Ziel?

Abgesehen davon, dass die Intuition einen Widerspruch meldet, kann sie auch sagen: "Was soll ich damit?" Es ist immer nur das interessant, was einen Bezug zu dem aufweist, das man schon kennt. Wenn man sich selbst mathematische Zusammenhänge erarbeitet, ergibt sich automatisch immer ein Bezug zu dem eigenen Wissen, denn sonst wäre man ja gar nicht daraufgekommen – unmotivierte Geniestreiche sind so selten wie große Entdeckungen in der Geschichte der Mathematik. Dinge, die man selbst entdeckt, sind für einem selbst immer interessant und werden kaum jemals wieder vergessen. Deshalb wird ja immer wieder gepredigt, man muss selber was tun, will man Mathematik verstehen. Im Gegensatz dazu sind aber alle Vorlesungen und Bücher so aufgebaut, dass die wesentlichen Dinge "vom Himmel fallen". Ideal wäre es meines Erachtens, den Stoff so zu bringen, als ob man ihn selbst entdeckt. Richard P. Feynman hat mit seinem 3-bändigen Werk Vorlesungen über Physik gezeigt, dass dies zumindest für die mathematische Physik möglich ist.

Kritik

Manche glauben, in der höheren Mathematik kommt man mit der Intuition nicht weit, und das müsse man einfach akzeptieren. Ich hingegen denke, dass man einen intuitiven Zugang finden muss, will man die höhere Mathematik wirklich verstehen, und bis jetzt habe ich in jedem Fall irgendwann einmal ein geeignetes Vorstellungsbild gefunden. Zwar kann man sich nicht immer eine Sache auf eine bestimmte Weise veranschaulichen, aber es lässt sich bei genügender Ausdauer doch irgendein brauchbares finden. So kann man sich etwa den vierdimensionalen Raum (ℝ4) nicht geometrisch vorstellen, aber doch gut damit arbeiten, wenn die Intuition weiß, dass er praktisch wie der ℝ3 ist, nur formal mit einer Komponente mehr.

Bedauerlicherweise scheinen viele zu glauben, bei Lerntheorie handle es sich um philosophische Äußerungen ohne praktischen Wert, doch ich kann das absolut nicht nachvollziehen: Die meiste Zeit, die für das Studium draufgeht, verbringt man doch mit Lernen. Könnte man das Lernen auch nur um wenige Prozent effizienter gestalten, würde sich das bereits mit etlichen eingesparten Stunden zu Buche schlagen.

Wie siehst du die Sache? Nach welcher Methode lernst du? Was fällt dir leicht und was schwer? Bitte schreib mir deine Meinung! Meine Adresse: mario@sedl.at