Mario Sedlak
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Über meine Artikel

Es ist sehr schwer, über dieses – oft als „philosophisch“ abgewertete – Thema zu diskutieren, weil man hier eine exakte Sprechweise einhalten muss, die man sonst im Alltag nicht braucht. Z. B. führte ich eine Dreiviertelstunde lang eine kontroverse Diskussion mit jemandem über meine obigen Ansichten, bis sich schließlich herausstellte, dass wir eh einer Meinung sind. Er hatte lediglich als „Wirklichkeit“ das bezeichnet, was ich „Modelle der Wirklichkeit“ nenne, und mit „Tatsachen“ das, was ich „Modelle der Wirklichkeit, die so zuverlässig sind, dass sich wahrscheinlich nie während des Bestehens der Menschheit eines davon als falsch herausstellen wird“ nenne.

Die Mathematik hat meiner Meinung nach nicht unmittelbar etwas mit der Wirklichkeit zu tun. Man kann lediglich mit ihrer Hilfe Aussagen über die Wirklichkeit gewinnen, die dann genauso zuverlässig sind wie die benützten Voraussetzungen. Bevor ich das erkannte – was recht lang dauerte –, machte ich mir Kopfzerbrechen darüber, wieso man nicht auch über die nichtmathematische Wirklichkeit absolut sichere Aussagen gewinnen kann, wenn man es so geschickt wie in der Mathematik anstellt. Das geht natürlich nicht, weil man nicht einmal eine einzige absolut sichere Aussage über die Wirklichkeit hat (von notwendigen Wahrheiten abgesehen), die man zum Aufbau eines absolut gesicherten Lehrgebäudes heranziehen kann.

Selbst die natürlichen Zahlen sind nur ein Modell für das Zählen in der Wirklichkeit. Mit den Peano-Axiomen kann man beweisen, dass es beim Addieren und Multiplizieren von 2 Zahlen nicht auf deren Reihenfolge ankommt (Kommutativgesetz). Doch wenn man das bewiesen hat, was weiß man dann mehr darüber, ob das auch in der Wirklichkeit so ist? Ohne Experimente und Beobachtungen in der Wirklichkeit gar nichts. Ich denke, das ist völlig klar, aber man muss einmal darüber nachgedacht haben. A priori (d. h. ohne Rückgriff auf Erfahrungen) können wir nichts über die Wirklichkeit wissen (ausgenommen sind nur Sätze, die in jeder denkbaren Wirklichkeit zutreffen). Wir können zwar Aussagen vorgeben und mit Hilfe der Logik und der Mathematik andere Aussagen gewinnen. Aber solange wir nicht überprüft haben, ob die Voraussetzungen wirklich zuverlässige Erkenntnisse über die Wirklichkeit sind, können wir uns darum nichts kaufen. Und das Kommutativgesetz wird ja tatsächlich z. B. in der Quantentheorie nicht erfüllt.

Da die Mathematik nicht die Wirklichkeit ist, sondern sie nur beschreibt, sehe ich auch Gödels Nachweis, dass jedes widerspruchsfreie Axiomensystem zur Beschreibung der natürlichen Zahlen unvollständig ist, etwas anders. Gödel zeigte, dass es Aussagen gibt, die man mit Hilfe der Axiome weder beweisen noch widerlegen kann. Oft wird das anders formuliert: Es gäbe „wahre“ Aussagen, die man nicht aus den Axiomen ableiten kann. In welchem Sinn sollen sie aber dann „wahr“ sein, wenn sie nicht abgeleitet werden können? Da die Mathematik nicht die Wirklichkeit ist, haben wir zum Nachweis, dass eine Aussage wahr ist, keine andere Möglichkeit als durch einen logisch korrekten Beweis.

Meines Erachtens kann man nicht einfach sagen: „Jede Aussage ist entweder wahr oder falsch, und wenn ich das nicht entscheiden kann, dann gibt es wahre Aussagen, die ich nicht herleiten kann.“ (Wenn eine Aussage falsch ist, dann ist ihr logisches Gegenteil wahr.) Diese Argumentation gefällt mir nicht, weil sie suggeriert, es gäbe irgendeinen „objektiven“ Wahrheitsgehalt von mathematischen Aussagen, noch bevor ich überhaupt mit irgendwelchen Herleitungen beginne. Das ist nicht so; vielmehr definiere ich (über die Wahl von Axiomensystemen und Annahmen), was wahr sein soll und was nicht.

Ein berühmtes Beispiel für eine nicht entscheidbare Aussage ist die Kontinuumshypothese: Gibt es Mengen, die eine Mächtigkeit haben, die echt zwischen derer der natürlichen Zahlen und der reellen Zahlen liegt? Die Antwort ist: Wenn ich Mathematik betreibe, werde ich nie auf so eine Menge stoßen, aber wenn ich will, kann ich explizit eine Menge mit der fraglichen Mächtigkeit vorgeben und widerspruchsfrei damit arbeiten. (Diese Formulierung ist logisch äquivalent zu der Behauptung, dass die Kontiuumshypothese unentscheidbar ist: Denn würde ich beim Betreiben von Mathematik auf eine der fraglichen Mengen stoßen, hätte ich den Existenzbeweis geliefert; würde ich nicht widerspruchsfrei damit arbeiten können, könnte ich diesen Umstand für einen indirekten Beweis der negativ entschiedenen Kontinuumshypothese nutzen.)

Ich weiß nicht, was an der Unentscheidbarkeit der Kontinuumshypothese so tragisch sein soll. Vielleicht glauben manche, dass damit gezeigt wurde, dass Teile der Wirklichkeit nicht mit der Mathematik beschrieben werden können, doch das ist ein falscher Glaube, da eben die Mathematik nicht die Wirklichkeit ist. Seit ich das weiß, erscheint mir die ganze Aufregung um die Kontinuumshypothese und Gödels Unvollständigkeitssatz rätselhafter als die Dinge selbst.

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