Kontinuumshypothese
Die Menge der reellen Zahlen hat „gleich viele“ Elemente wie die Menge aller Teilmengen der natürlichen Zahlen, d. h. man kann jeder reellen Zahl eine Menge von natürlichen Zahlen zuordnen und umgekehrt, ohne eine Menge bzw. Zahl doppelt zu verwenden und ohne dass eine Menge oder Zahl übrig bleibt.
Die reellen Zahlen werden auch als „Kontinuum“ bezeichnet, und die Kontinuumshypothese ist nun die Vermutung:
Alle Teilmengen der reellen Zahlen sind entweder
- endlich oder
- haben „gleich viele“ Elemente wie die Menge der natürlichen Zahlen oder
- haben „gleich viele“ Elemente wie die Menge aller reellen Zahlen.
D. h.:
Es gibt keine Menge, deren Elemente nicht mit den natürlichen Zahlen abgezählt werden können und die andererseits zu wenige Elemente hat, um jeder reellen Zahl ein anderes Element von ihr zuordnen zu können.
Oder präziser und kürzer mit Kardinalzahlen:
(|ℝ| = ℵ1)
Es ist eines der überraschendsten Ergebnisse der Mathematik im 20. Jahrhundert, dass die Kontinuumshypothese unentscheidbar ist.[1] D. h. sie ist mit den üblichen Axiomen der Mengenlehre (ZFC) weder beweisbar noch widerlegbar!
Vergangenheit
- 1877 stellte Georg Cantor die Kontinuumshypothese auf.
- 1900 reihte David Hilbert die Kontinuumshypothese an erster Stelle der wichtigsten ungelösten mathematischen Probleme.
- 1937–
1940 zeigte Kurt Gödel, dass die Kontinuumshypothese nicht widerlegbar ist (indem er bewies, dass alle konstruierbaren Mengen zusammen die Mengenaxiome erfüllen und keine Menge darunter ist, die die Kontinuumshypothese verletzt). - 1963 zeigte Paul Cohen, dass die Kontinuumshypothese nicht beweisbar sein kann (indem er zu den konstruierbaren Mengen weitere hinzufügte, sodass die Mengen immer noch die Mengenaxiome erfüllen, aber nun mit einer, die die Kontinuumshypothese verletzt).
Verallgemeinerungen
Name | Beschreibung | formal |
---|---|---|
Verallgemeinerte Kontinuumshypothese | Nicht nur zwischen der Menge der natürlichen Zahlen und der Menge der reellen Zahlen gibt es keine „Zwischenmenge“, sondern ebenso nicht zwischen einer beliebigen unendlichen Menge und der Menge ihrer Teilmengen. | |M| = ℵα ⇒ |𝒫(M)| = ℵα+1 |
Singuläre- | Die Kontinuumshypothese gilt zumindest für überabzählbare Mengen, die nicht aus einer Menge mit kleinerer Kardinalität durch Übergang zur Menge mit der nächstgrößeren Kardinalität oder zur „Menge aller Teilmengen“ gebildet werden können, aber durch Vereinigung von Mengen kleinerer Kardinalität. (Die „Größe“ einer so charakterisierten Menge wird durch eine sog. singuläre Limeskardinalzahl beschrieben. Kleinstes Beispiel: ℵω) | selbe Formel wie in voriger Zeile, aber nur für die genannten Mengen (mit singulärer Kardinalzahl) |
Was man sagen kann
- Die Kardinalität der reellen Zahlen kann beliebig groß sein (z. B. ℵω1 oder sogar eine unerreichbare Kardinalzahl[2]).
- Die reellen Zahlen haben jedoch nicht „gleich viele“ Elemente wie eine Menge, die aus abzählbar vielen Mengen kleinerer Kardinalität gebildet werden kann.[3]
- Für Mengen, die nicht aus einer Menge mit kleinerer Kardinalität durch Übergang zur Menge mit der nächstgrößeren Kardinalität oder zur „Menge aller Teilmengen“ gebildet werden können (= Mengen mit singulärer Limitkardinalzahl), gibt es gewisse Einschränkungen, was die Größe der Menge ihrer Teilmengen betrifft (z. B. |𝒫(ℵω)| < ℵω4).[4]
- Die Kontinuumshypothese ist für alle „konstruierbaren“ (borelschen) Mengen beweisbar.
- Wenn man das Axiom der projektiven Determiniertheit zu den Axiomen der Mengenlehre hinzufügt, dann gilt die Kontinuumshypothese für alle Mengen, die üblicherweise in der Mathematik auftreten (projektive Mengen).
- Im Zusammenhang mit der Methode, mit der Cohen 1963 das erste Gegenbeispiel zur Kontinuumshypothese konstruiert hat (Erzwingungsmethode oder Forcing), kommt man auf mögliche neue Axiome. Alle Axiome, die in gewisser Weise „gut“ sind, ergeben, dass die reellen Zahlen eine Menge mit drittkleinster Unendlichkeit sind (d. h. |ℝ| = ℵ2).[5]
Die moderne Mengenlehre kennt mehrere Axiome, welche der mengentheoretischen Forschung natürlich entwachsen sind, welche plausibel sind und verschiedener Art von Rechtfertigung standhalten und welche die Mächtigkeit von ℝ entscheiden.[6]
- Axiome für große Kardinalzahlen können die Kontinuumshypothese nicht entscheiden.[7]
Folgerungen
- Die Kontinuumshypothese hat keinerlei Auswirkungen auf die Arithmetik.
Alles, was man über die natürlichen Zahlen mit der Kontinuumshypothese beweisen kann, geht auch ohne sie.
- Die Kontinuumshypothese (oder ihr Gegenteil) hat auch sonst wenig interessante Konsequenzen. Deswegen fügt man sie nicht einfach als neues Axiom hinzu.
Meinungen
Kontinuumshypothese wahr
Hilbert und Cantor waren der Meinung, dass die Kontinuumshypothese „wahrscheinlich richtig“ ist.
In den 2000er Jahren meinte der Mengentheoretiker William Hugh Woodin, Argumente gegen die Gültigkeit der Kontinuumshypothese gefunden zu haben. Später wandte er sich von dieser Auffassung ab und konstruierte ein Modell für Kardinalzahlen, das er Ultimate L nannte, in Anlehnung an Gödels konstruierbares Universum L. In diesem Universum ist die verallgemeinerte Kontinuumshypothese wahr.
Kontinuumshypothese falsch
Cohen ist sich mit vielen Mathematikern einig, dass die Menge der reellen Zahlen dermaßen groß ist, dass sie eigentlich nicht die zweitkleinste Unendlichkeit darstellen kann.
Die meisten Mengentheoretiker glauben, dass die Kontinuumshypothese falsch ist.[8]
Es sieht ... heute so aus, als ob die Kontinuumshypothese besser falsch sein sollte. Das bedeutet, dass Modelle, in denen sie wahr ist, eher einen einschränkenden Charakter haben, während Modelle, in denen sie falsch ist, mehr Raum für kompliziertere Konstrukte lassen.
Ein anderes Gefühl gegen die verallgemeinerte Kontinuumshypothese ist der Umstand, dass sie auch für endliche Mengen außer 0 und 1 nicht zutrifft.[9]
Entscheidbarkeit
Gödel dachte, dass die Kontinuumshypothese eines Tages durch eine neue, intuitiv einleuchtende Erweiterung der ZF-Mengenlehre entschieden werden wird.[10]
Es wird sogar vermutet (z. B. Feferman 1999), dass es keinerlei Axiomensystem gibt, das so weithin wie die ZFC-Mengenaxiome akzeptiert wird und die Kontinuumshypothese entscheidet.[11]
Die Frage, ob die Kontinuumshypothese wahr sei, gleicht vielleicht der, ob Hamlet Linkshänder war.
Meine Meinung
Mengen, deren Existenz unentscheidbar ist, gibt es eigentlich nicht – wenn man Mathematik im üblichen Rahmen betreibt, wird man nie auf sie stoßen. Man kann solche Mengen annehmen, und wenn das nützlich erscheint, soll man das tun. Bis jetzt scheint eine solche Annahme aber nicht so überzeugend begründbar zu sein, dass man sagen könnte, die „wahre“, „richtige“ oder „naheliegende“ Mengenlehre wäre eine mit diesen fraglichen Mengen.
Relevanz
Die Kontinuumshypothese ... zählt zu den zentralen Fragen der Mengenlehre, über die immer noch gestritten wird. ... Die Kontinuumshypothese wird weithin als offenes Problem erachtet.[12]
Das Cantorsche Kontinuumsproblem ... ist zusammen mit all seinen Verästelungen seit ca. 150 Jahren eine der Antriebfedern mengentheoretischer Forschung....
Neben aller tiefliegenden technischen Errungenschaften der gegenwärtigen Mengenlehre lässt sich sicher sagen, dass das Cantorsche Kontinuumsproblem weiter eine der treibenden Kräfte mengentheoretischer Forschung bleibt und dass die Untersuchung von Aspekten dieses Problems zu modernen Theorien geführt hat, die in ihrer Elaboriertheit und Stärke weder Cantor noch auch Gödel hätte vorausahnen können.[13]
Weiter
Weblinks
- Falsche Wiedergabe der Kontinuumshypothese in populärer Literatur (englisch) – Eine Irrtümersammlung
Quellen
[1] | Joan Bagaria: A Short Excursion to Cantor’s Paradise (übersetzt aus dem Katalanischen) – „One of the most surprising results of the mathematics of the 20th century is that Cantor’s Continuum Hypothesis is undecidable.“ | ||||||||||||
[2] | David Asperó und Ralf Schindler: Wieviele reelle Zahlen gibt es? (PDF), 2022, S. 4 – „Überlegungen ... weisen in dieselbe Richtung: dass 2ℵ0 schwach unerreichbar, d.h. eine überabzählbare reguläre Limeskardinalzahl sein sollte.“ | ||||||||||||
[3] | Radek Honzik: Large cardinals and the Continuum Hypothesis (PDF), S. 1 – „The cofinality of the size of the continuum must be uncountable.“ | ||||||||||||
[4] | Stanford Encyclopedia of Philosophy, Artikel The Continuum Hypothesis, Abschnitt „Singular Cardinals“
(Siehe dort weitere Beispiele für beweisbare Einschränkungen) | ||||||||||||
[5] |
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[6] | David Asperó und Ralf Schindler: Wieviele reelle Zahlen gibt es? (PDF), 2022, S. 12 | ||||||||||||
[7] | Jean-[8]
| Nancy McGough: The Continuum Hypothesis, Infinite Ink, 1997 – „most set theorists think CH is false.“
| [9]
| Frank R. Drake: Set Theory. An Introduction to Large Cardinals. Amsterdam: North- | [10]
| Stanford Encyclopedia of Philosophy, Artikel Kurt Gödel, Abschnitt 2.4.1 – „Gödel’s view [was] that the CH would eventually be decided by finding an evident extension of the ZF axioms for set theory.“
| [11]
| Stanford Encyclopedia of Philosophy, Artikel Second- | [12]
| Stanford Encyclopedia of Philosophy, Artikel Second- | [13]
| David Asperó und Ralf Schindler: Wieviele reelle Zahlen gibt es? (PDF), 2022, S. 1 und 12
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