Mario Sedlak
Mathematik
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Kontinuumshypothese

Die Menge der reellen Zahlen hat „gleich viele“ Elemente wie die Menge aller Teilmengen der natürlichen Zahlen, d. h. man kann jeder reellen Zahl eine Menge von natürlichen Zahlen zuordnen und umgekehrt, ohne eine Menge bzw. Zahl doppelt zu verwenden und ohne dass eine Menge oder Zahl übrig bleibt.

Die reellen Zahlen werden auch als „Kontinuum“ bezeichnet, und die Kontinuumshypothese ist nun die Vermutung:

Alle Teilmengen der reellen Zahlen sind entweder

  • endlich oder
  • haben „gleich viele“ Elemente wie die Menge der natürlichen Zahlen oder
  • haben „gleich viele“ Elemente wie die Menge aller reellen Zahlen.

D. h.:

Es gibt keine Menge, deren Elemente nicht mit den natürlichen Zahlen abgezählt werden können und die andererseits zu wenige Elemente hat, um jeder reellen Zahl ein anderes Element von ihr zuordnen zu können.

Oder präziser und kürzer mit Kardinalzahlen:

Die Menge der reellen Zahlen ist die zweitkleinste Art von unendlichen Mengen.

(|ℝ| = ℵ1)

Es ist eines der überraschendsten Ergebnisse der Mathematik im 20. Jahrhundert, dass die Kontinuumshypothese unentscheidbar ist.[1] D. h. sie ist mit den üblichen Axiomen der Mengenlehre (ZFC) weder beweisbar noch widerlegbar!

Vergangenheit

Verallgemeinerungen

Name Beschreibung formal
Verallgemeinerte Kontinuumshypothese Nicht nur zwischen der Menge der natürlichen Zahlen und der Menge der reellen Zahlen gibt es keine „Zwischenmenge“, sondern ebenso nicht zwischen einer beliebigen unendlichen Menge und der Menge ihrer Teilmengen. |M| = ℵα ⇒ |𝒫(M)| = ℵα+1
Singuläre-Kardinalzahlen-Hypothese Die Kontinuumshypothese gilt zumindest für überabzählbare Mengen, die nicht aus einer Menge mit kleinerer Kardinalität durch Übergang zur Menge mit der nächstgrößeren Kardinalität oder zur „Menge aller Teilmengen“ gebildet werden können, aber durch Vereinigung von Mengen kleinerer Kardinalität. (Die „Größe“ einer so charakterisierten Menge wird durch eine sog. singuläre Limeskardinalzahl beschrieben. Kleinstes Beispiel: ω) selbe Formel wie in voriger Zeile, aber nur für die genannten Mengen (mit singulärer Kardinalzahl)

Was man sagen kann

Folgerungen

Meinungen

Kontinuumshypothese wahr

Hilbert und Cantor waren der Meinung, dass die Kontinuumshypothese „wahrscheinlich richtig“ ist.
In den 2000er Jahren meinte der Mengentheoretiker William Hugh Woodin, Argumente gegen die Gültigkeit der Kontinuumshypothese gefunden zu haben. Später wandte er sich von dieser Auffassung ab und konstruierte ein Modell für Kardinalzahlen, das er Ultimate L nannte, in Anlehnung an Gödels konstruierbares Universum L. In diesem Universum ist die verallgemeinerte Kontinuumshypothese wahr.

Kontinuumshypothese falsch

Cohen ist sich mit vielen Mathematikern einig, dass die Menge der reellen Zahlen dermaßen groß ist, dass sie eigentlich nicht die zweitkleinste Unendlichkeit darstellen kann.
Die meisten Mengentheoretiker glauben, dass die Kontinuumshypothese falsch ist.[8]
Es sieht ... heute so aus, als ob die Kontinuumshypothese besser falsch sein sollte. Das bedeutet, dass Modelle, in denen sie wahr ist, eher einen einschränkenden Charakter haben, während Modelle, in denen sie falsch ist, mehr Raum für kompliziertere Konstrukte lassen.
Ein anderes Gefühl gegen die verallgemeinerte Kontinuumshypothese ist der Umstand, dass sie auch für endliche Mengen außer 0 und 1 nicht zutrifft.[9]

Entscheidbarkeit

Gödel dachte, dass die Kontinuumshypothese eines Tages durch eine neue, intuitiv einleuchtende Erweiterung der ZF-Mengenlehre entschieden werden wird.[10]
Es wird sogar vermutet (z. B. Feferman 1999), dass es keinerlei Axiomensystem gibt, das so weithin wie die ZFC-Mengenaxiome akzeptiert wird und die Kontinuumshypothese entscheidet.[11]
Die Frage, ob die Kontinuumshypothese wahr sei, gleicht vielleicht der, ob Hamlet Linkshänder war.

Meine Meinung

Mengen, deren Existenz unentscheidbar ist, gibt es eigentlich nicht – wenn man Mathematik im üblichen Rahmen betreibt, wird man nie auf sie stoßen. Man kann solche Mengen annehmen, und wenn das nützlich erscheint, soll man das tun. Bis jetzt scheint eine solche Annahme aber nicht so überzeugend begründbar zu sein, dass man sagen könnte, die „wahre“, „richtige“ oder „naheliegende“ Mengenlehre wäre eine mit diesen fraglichen Mengen.

Relevanz

Die Kontinuumshypothese ... zählt zu den zentralen Fragen der Mengenlehre, über die immer noch gestritten wird. ... Die Kontinuumshypothese wird weithin als offenes Problem erachtet.[12]
Das Cantorsche Kontinuumsproblem ... ist zusammen mit all seinen Verästelungen seit ca. 150 Jahren eine der Antriebfedern mengentheoretischer Forschung.

...

Neben aller tiefliegenden technischen Errungenschaften der gegenwärtigen Mengenlehre lässt sich sicher sagen, dass das Cantorsche Kontinuumsproblem weiter eine der treibenden Kräfte mengentheoretischer Forschung bleibt und dass die Untersuchung von Aspekten dieses Problems zu modernen Theorien geführt hat, die in ihrer Elaboriertheit und Stärke weder Cantor noch auch Gödel hätte vorausahnen können.[13]

Weiter

Verallgemeinerungen von Zahleneigenschaften

Weblinks

Quellen

[1] Joan Bagaria: A Short Excursion to Cantor’s Paradise (übersetzt aus dem Katalanischen) – „One of the most surprising results of the mathematics of the 20th century is that Cantor’s Continuum Hypothesis is undecidable.“
[2] David Asperó und Ralf Schindler: Wieviele reelle Zahlen gibt es? (PDF), 2022, S. 4 – „Überlegungen ... weisen in dieselbe Richtung: dass 20 schwach unerreichbar, d.h. eine überabzählbare reguläre Limeskardinalzahl sein sollte.“
[3] Radek Honzik: Large cardinals and the Continuum Hypothesis (PDF), S. 1 – „The cofinality of the size of the continuum must be uncountable.“
[4]

Stanford Encyclopedia of Philosophy, Artikel The Continuum Hypothesis, Abschnitt „Singular Cardinals“

  • „although the continuum function at regular cardinals is relatively unconstrained in ZFC, the continuum function at singular cardinals is (provably in ZFC) constrained in significant ways by the behaviour of the continuum function on the smaller cardinals.“
  • Theorem von Shelah 1982

(Siehe dort weitere Beispiele für beweisbare Einschränkungen)

[5]
[6] David Asperó und Ralf Schindler: Wieviele reelle Zahlen gibt es? (PDF), 2022, S. 12
[7] Jean-Paul Delahaye: Unendliche Spiele und große Mengen, Spektrum.de, 1.12.1998 – „Es ist bewiesen worden, daß man die Kontinuumshypothese nicht erschöpfend mit einem Axiom für große Kardinalzahlen behandeln kann.“
[8] Nancy McGough: The Continuum Hypothesis, Infinite Ink, 1997 – „most set theorists think CH is false.“
[9] Frank R. Drake: Set Theory. An Introduction to Large Cardinals. Amsterdam: North-Holland, 1974, S. 66 – „Another feeling against the GCH is provided by the fact that it does not hold for finite cardinals other than 0 and 1.“
[10] Stanford Encyclopedia of Philosophy, Artikel Kurt Gödel, Abschnitt 2.4.1 – „Gödel’s view [was] that the CH would eventually be decided by finding an evident extension of the ZF axioms for set theory.“
[11] Stanford Encyclopedia of Philosophy, Artikel Second-order and Higher-order Logic, Abschnitt 6 – „There are even suggestions (e.g., Feferman 1999) that it cannot be solved by any axiom system with the kind of general acceptance that ZFC has.“
[12] Stanford Encyclopedia of Philosophy, Artikel Second-order and Higher-order Logic, Abschnitt 6 – „The CH and the AC are central questions of set theory and subjects of continuing debate. ... the CH is widely considered an open problem.“
[13] David Asperó und Ralf Schindler: Wieviele reelle Zahlen gibt es? (PDF), 2022, S. 1 und 12

Seite erstellt am 14.11.2023 – letzte Änderung am 21.7.2024