Unerreichbare Kardinalzahlen
Eine überabzählbare Menge mit der Kardinalität κ, die
- nicht als Vereinigung von weniger als κ vielen Mengen kleinerer Kardinalität gebildet werden kann und die
- auch nicht „gleich viele“ Elemente wie die „Menge aller Teilmengen“ einer Menge kleinerer Kardinalität hat
kann mit den üblichen Axiomen der Mengenlehre auch in einer stärkeren Fassung (ZFC2) nicht gebildet werden. Eine solche Menge, die nicht gebildet werden kann, wird unerreichbar genannt und ihre Mächtigkeit ist eine unerreichbare Kardinalzahl. Letztere gehört zu den großen Kardinalzahlen.
Veranschaulichung
Wenn unerreichbare Mengen nicht überabzählbar sein müssten, wäre eine abzählbare Menge bereits unerreichbar, denn sie lässt sich nicht aus endlich vielen endlichen Mengen bilden. (In einer endlichen Mengenlehre ist eine unendliche Menge tatsächlich unerreichbar.)
Analog ist die Vereinigung von allen endlichen oder unendlichen Mengen, die man bilden kann, unerreichbar.
- In der Mengenlehre Z ist schon ℵω unerreichbar. Jede kleinere Kardinalzahl ℵn ist in dieser Mengenlehre konstruierbar, nicht aber deren Vereinigung zu ℵω (denn dafür bräuchte es das Ersetzungsaxiom, das in dieser Mengenlehre fehlt).
- In der Mengenlehre ZFC2 sind sehr viel größere Mengen bildbar. Sie alle zu vereinigen, ist auch hier nicht möglich. In dem Fall scheitert es daran, dass man keine Indexmenge hierfür finden kann, da diese gleich mächtig wie die – erst zu bildende – Vereinigung wäre. Damit erfüllt diese theoretische Vereinigung die Definition einer unerreichbaren Menge.
Unter einer unerreichbaren Menge kann man sich also die Klasse aller bildbaren Mengen (Mengenuniversum V) vorstellen.[1]
Es ist nicht so, wie ich früher gedacht habe, dass eine unerreichbare Menge auch irgendwo mittendrin in der Hierarchie aller bildbaren Mengen stecken könnte, denn laut Definition kann man sie mit den Mitteln der Mengenlehre nicht überspringen.
Verwendung
Anhand des Beispiels ℵω in der Mengenlehre Z habe ich erstmals verstanden, wieso man der „Menge aller Mengen“ nun doch einen Sinn zuweisen kann: Man muss mit dieser Menge weiterrechnen, so weit es geht.
Man erhält ein größeres Mengenuniversum, dessen Vereinigung dann die nächste unerreichbare Kardinalzahl ist. Und so erhält man eine ganze Hierarchie von großen Kardinalzahlen.
Dass man so vorgehen darf, lässt sich nicht beweisen, aber es haben sich bis dato keine Widersprüche ergeben.
Der Beweis, dass es keine unerreichbare Kardinalzahl gibt, wäre eine Sensation, die mit einem Beweis der Widersprüchlichkeit der üblichen Mengenlehre selbst fast gleichwertig wäre.
Eigenschaften
Man kann zeigen,
- dass jede (in ZFC2) unerreichbare Kardinalzahl ein „Häufungspunkt“ von Beth-Fixpunkten ist[2] und 
- dass es für jede Kardinalzahl κ, die nicht mit weniger als κ vielen Mengen kleinerer Kardinalität gebildet werden kann, einen Beth-Fixpunkt mit ebendieser Eigenschaft gibt (nämlich die Vereinigungsmenge der ersten κ Beth- Fixpunkte).[3] 
Varianten
- Wenn man in der Definition von „unerreichbar“ statt der „Menge aller Teilmengen“ die „Menge der nächstgrößeren Kardinalität“ zur Bildung von Mengen zulässt, erhält man schwach unerreichbare Mengen bzw. Kardinalzahlen. Die, die ich genannt habe, werden dann als stark unerreichbar bezeichnet. Wenn die verallgemeinerte Kontinuumshypothese gilt, dann ist beides dasselbe und muss nicht unterschieden werden.
- Wenn man in der Definition von „unerreichbar“ nur definierbare Mengen zulässt (= Mengenlehre ZFC), erhält man weltliche Mengen bzw. Kardinalzahlen. Diese sind kleiner als (in ZFC2) unerreichbare, weil nur abzählbar viele Mengen definiert werden können. - Die weltlichen Kardinale können als eine Art „unerreichbare Kardinale des kleinen Mannes“ erachtet werden.[4] - Jede unerreichbare Kardinalzahl κ ist Grenzwert (Vereinigungsmenge) von κ weltlichen Kardinalzahlen.[5] 
Relevanz
Unerreichbare Kardinalzahlen erhalten ihre Bedeutung dadurch, dass sie Modelle für ZFC liefern.[6]
D. h. alle Teilmengen einer unerreichbaren Menge von kleinerer Kardinalität als die gesamte Menge erfüllen zusammen die Axiome der Mengenlehre – und beweisen dadurch ihre Widerspruchsfreiheit. Und weil kein Axiomensystem so eines „Kalibers“ seine eigene Widerspruchsfreiheit beweisen kann (Zweiter Gödelscher Unvollständigkeitssatz), kann die Existenz von unerreichbaren Mengen bzw. Kardinalzahlen in ZFC2 nicht bewiesen werden (und auch nicht in ZFC oder einer noch schwächeren Mengenlehre).
Weiter
Weblinks
- „Cantors Dachboden“: Inaccessible cardinal
- Englische Wikipedia: Inaccessible cardinal
Quellen
| [1] | Joan Bagaria: A Short Excursion to Cantor’s Paradise (übersetzt aus dem Katalanischen) – „the axiom of existence of an inaccessible cardinal says that if the construction of V could be continued yet one more step beyond all ordinals, then the cardinal that would be obtained, which would be an inaccessible, exists.“ | ||||||||
| [2] | im Diskussionsforum Mathematics Stack Exchange – Beweis, dass „schwach unerreichbar“ äquivalent zu „regulärer Aleph- | [3] | im Diskussionsforum Mathematics Stack Exchange – „If κ is regular, then the supremum of the first κ aleph fixed points is an aleph fixed point of cofinality κ.“ | [4] | Joel David Hamkins: Worldly cardinals are not always downwards absolute – „The worldly cardinals can be seen as a kind of poor- | [5] | „Cantors Dachboden“: Inaccessible cardinal – „The worldly cardinals are unbounded in κ“ | [6] | Maximilian Ganster: Kardinalzahlen (PDF), Vorlesungsskriptum, S. 6 |  | 

 

