Mario Sedlak
Mathematik
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Große Kardinalzahlen

Große Kardinalzahlen werden nicht für üblicherweise in der Mathematik vorkommende Mengen gebraucht, sondern um ihrer selbst willen studiert, wobei es dann doch überraschende Konsequenzen für Mengen von reellen Zahlen etc. gibt.

Die Mengen, die mit großen Kardinalzahlen beschrieben werden, sind auch für Mathematiker nicht mehr vorstellbar, aber man kann ihre Eigenschaften beschreiben und formal mit den Kardinalzahlen rechnen.

Was sind Kardinalzahlen?

Jede unendliche Kardinalzahl kann als Aleph-Zahl ℵα mit einer Ordinalzahl α als Index dargestellt werden.

Konventionen

Beispiele

Eigenschaft Beschreibung Relevanz
ω Grenzwert (Vereinigungsmenge) der Folge ℵ0, ℵ1, ℵ2, ... Kann in der Mengenlehre Z nicht konstruiert werden. Ebenso in dem exotischen Axiomensystem ETCS
ω1 Vereinigung aller ℵα mit abzählbarer Ordinalzahl α als Index
ωω Grenzwert (Vereinigungsmenge) der Folge ℵω1, ℵω2, ℵω3, ...
kleinster Fixpunkt der Aleph-Reihe

Grenzwert (Vereinigungsmenge) der Folge ℵω, ℵωω, ℵωωω, ...

Normalerweise ist die zugrunde liegende Menge deutlich größer als der Index, aber bei einem Fixpunkt ist die Kardinalität gleich (κ = ℵκ). – In den Tiefen der Unendlichkeit hat der Index aufgeholt. (Überholen kann er nicht.[1])

Die folgenden, noch größeren Kardinalzahlen können nicht mehr explizit angegeben werden. Es kann nicht einmal bewiesen werden, dass es sie gibt![2] Mathematiker nehmen dennoch ihre Existenz an, da sich eine reichhaltige und anscheinend widerspruchsfreie Theorie aus ihnen ergibt, die einige sonst unentscheidbare Fragen beantworten kann.[3]

Eigenschaft Beschreibung Relevanz
weltlich

überabzählbare Menge κ, die nicht „Menge aller Teilmengen“ einer kleineren Menge ist und nicht durch Vereinigung von weniger als κ vielen definierbaren Mengen mit Kardinalität kleiner als κ gebildet werden kann

Ist ein Fixpunkt der Beth-Reihe (κ = ℶκ) sowie ein Fixpunkt der Durchnummerierung dieser Fixpunkte (d. h. wenn ξκ der κ-te Fixpunkt von ℶ ist, dann ist κ = ξκ).

Kann in der üblichen Mengenlehre (ZFC) nicht konstruiert werden.
unerreichbar

weltliche Kardinalzahlen, die weder mit definierbaren noch mit irgendwelchen theoretisch vorhandenen kleineren Mengen gebildet werden können (Da es nur abzählbar viele mathematische Ausdrücke gibt, können nur abzählbar viele Mengen definiert werden.)

Eine unerreichbare Kardinalzahl muss ein Fixpunkt κ der Beth-Reihe sein, für den es so viele kleinere Beth-Fixpunkte gibt, dass diese selbst eine Menge mit der Kardinalität κ bilden.

Ebenso bilden die weltlichen Kardinalzahlen, die kleiner als die unerreichbare Kardinalzahl κ sind, eine Menge mit der Kardinalität κ. Der Grenzwert (Vereinigungsmenge) aller dieser weltlichen Kardinalzahlen ist gleich κ.

Kann in der Mengenlehre ZFC2 nicht konstruiert werden.

Genau dann, wenn es keine unerreichbare Kardinalzahl gibt, lässt sich auch ohne Auswahlaxiom die Existenz einer unmessbaren Menge reeller Zahlen beweisen.[4]

1-unerreichbar Eine unerreichbare Kardinalzahl κ, und alle kleineren unerreichbaren Kardinalzahlen bilden selbst eine Menge mit der Kardinalität κ. Kann nicht erreicht werden, indem man von einer Menge zur nächstgrößeren unerreichbaren übergeht.
2-unerreichbar Eine unerreichbare Kardinalzahl κ, und alle kleineren 1-unerreichbaren Kardinalzahlen bilden selbst eine Menge mit der Kardinalität κ.
3-unerreichbar Eine unerreichbare Kardinalzahl κ, und alle kleineren 2-unerreichbaren Kardinalzahlen bilden selbst eine Menge mit der Kardinalität κ.
ω-unerreichbar = n-unerreichbar für alle natürlichen Zahlen n
(ω + 1)-unerreichbar Eine unerreichbare Kardinalzahl κ, und alle kleineren ω-unerreichbaren Kardinalzahlen bilden selbst eine Menge mit der Kardinalität κ.
hyper-unerreichbar Eine unerreichbare Kardinalzahl κ, die κ-unerreichbar ist („Unerreichbarkeits-Fixpunkt“)
1-hyper-unerreichbar Eine unerreichbare Kardinalzahl κ, und alle kleineren hyper-unerreichbaren Kardinalzahlen bilden selbst eine Menge mit der Kardinalität κ.
hyper-hyper-unerreichbar Eine hyper-unerreichbare Kardinalzahl κ, die κ-hyper-unerreichbar ist
Mahlo unerreichbar, hyper-unerreichbar, hyper-hyper-unerreichbar usw.
1-Mahlo Eine Mahlo-Kardinalzahl κ, und alle kleineren Mahlo-Kardinalzahlen bilden selbst eine Menge mit der Kardinalität κ. Gewisse Aussagen (Borel-Diagonalisierung) über Funktionen auf ([0, 1])n lassen sich nur beweisen, wenn es für jede natürliche Zahl n eine n-Mahlo-Kardinalzahl gibt.
hyper-Mahlo Eine Kardinalzahl κ, die κ-Mahlo ist
schwach kompakt Mahlo, hyper-Mahlo, hyper-hyper-Mahlo usw. Wenn es eine schwach kompakte Kardinalzahl gibt, dann kann man annehmen, dass jeder Baum aus ℵ2 vielen Knoten, bei dem jede Stufe aus weniger als ℵ2 vielen Knoten besteht, einen Zweig der Länge ℵ2 haben muss.[5] (= ℵ2 hat die Baumeigenschaft = Es gibt keinen2-Aronszajn-Baum. Die Kontinuumshypothese muss dann falsch sein.)
total unbeschreibbar Jede Eigenschaft einer unbeschreibbaren Kardinalzahl, die man durch einen beliebig komplexen (endlichen) logischen Ausdruck definieren kann, liegt bereits bei einer kleineren Kardinalzahl vor.
messbar

Eine messbare Kardinalzahl κ erlaubt eine Einteilung aller ihrer Teilmengen in „große“ und „kleine“ mit den Eigenschaften:

  • κ ist groß.
  • Alle Teilmengen mit einer Kardinalität kleiner als κ sind klein.
  • Die Vereinigung von weniger als κ vielen kleinen Teilmengen ist ebenfalls klein.
  • Der Durchschnitt von weniger als κ vielen großen Teilmengen ist ebenfalls groß.
  • Komplemente von kleinen Mengen sind groß, und Komplemente von großen Mengen sind klein.
  • Wenn κ in disjunkte Teilmengen zerlegt wird, dann ist genau eine davon groß.

Wenn κ eine messbare Kardinalzahl ist, dann bilden alle kleineren Kardinalzahlen, die unerreichbar sind, selbst eine Menge mit der Kardinalität κ. Ebenso die kleineren Kardinalzahlen, die schwach kompakt sind

Wenn es eine messbare Kardinalzahl gibt, dann sind alle Mengen von reellen Zahlen, die üblicherweise in der Mathematik auftreten (projektive Mengen), messbar.[6]
Woodin Eine Woodin-Kardinalzahl λ ist so groß, dass man jede Funktion in λ auf eine kleinere Kardinalzahl κ einschränken kann, und die Kardinalzahlen größer/gleich κ lassen sich „verschieben“, ohne am Wahrheitsgehalt von Sätzen der Mengenlehre etwas zu ändern. Wenn es unendlich viele Woodin-Kardinalzahlen gibt, dann sind alle Mengen von reellen Zahlen, die üblicherweise in der Mathematik auftreten (projektive Mengen), determiniert (d. h. wenn 2 „Spieler“ jeweils abwechselnd eine Stelle einer unendlichen Dezimalzahl nennen dürfen, dann kann entweder Spieler 1 erzwingen, dass die Zahl zu der vorgegebenen Menge gehört oder Spieler 2 erzwingen, dass sie nicht dazugehört).
stark kompakt eine messbare Kardinalzahl, die durch unendlich lange logische Ausdrücke beschrieben werden kann (und bestimmte weitere Eigenschaften hat)
superkompakt eine stark kompakte Kardinalzahl, bei der man alle größeren Kardinalzahlen „verschieben“ kann Wenn es superkompakte Kardinalzahlen gibt, dann ist jede „vernünftigerweise“ (ohne Auswahlaxiom) definierbare Menge von reellen Zahlen messbar.[7]

Weitere Beispiele auf „Cantors Dachboden“ (englisch, für Mathematiker)

Varianten

Meine Meinung

Große Kardinalzahlen sind wohl die extremste Erweiterung des Zahlenbegriffs. Hier kann man sich kaum noch ein Bild von der Größenordnung der „Zahlen“ machen, und zunächst erscheinen sie wie abstrakter Nonsens. Doch das liegt daran, dass sie die „Beweisstärke“ von Erweiterungen der gängigen Mengenlehre – dem Fundament der gesamten Mathematik – codieren. Da kann man nicht erwarten, dass alles so klar und übersichtlich wie bei den reellen Zahlen ist.

Weiter

Unerreichbare Kardinalzahlen

Weblinks

Literatur

Quellen

[1] Frank R. Drake: Set Theory. An Introduction to Large Cardinals. Amsterdam: North-Holland, 1974, S. 113 – „there cannot be a first α such that f(α) < α if“ f is increasing. (Siehe Beweis in der englischen Wikipedia)
[2]
  • Radek Honzik: Large cardinals and the Continuum Hypothesis (PDF), S. 9 – „It is conceivable, but not considered probable now, that ZFC is consistent, while ZFC + ,there is an inaccessible‘ is not.“
  • Colin J. Rittberg: „How Woodin changed his mind“, 2014 (DOI 10.1007/s00407-014-0142-8), S. 4 – „it is not ... known whether the existence of such [large cardinal] sets is ... consistent with ZFC.“
[3]
  • Stanford Encyclopedia of Philosophy, Artikel „Set Theory“, Abschnitt „Large Cardinals“ – „one cannot prove in ZFC that large cardinals exist. But everything indicates that their existence not only cannot be disproved, but in fact the assumption of their existence is a very reasonable axiom of set theory.“
  • Oliver Deiser: Einführung in die Mengenlehre, Abschnitt „Große Kardinalzahlen“ – „Die Rechtfertigung für das Studium der großen Kardinalzahlaxiome ist ihr struktureller Reichtum, die Vielzahl der mit ihnen einhergehenden Phänomene, und ihre Konsequenzen für die Mengenlehre und die Mathematik insgesamt.“
  • Jean-Paul Delahaye: Unendliche Spiele und große Mengen, Spektrum.de, 1.12.1998 – „Es wäre widersinnig anzunehmen, die Welt der Mengen sei bei dieser oder jener Größenordnung zu Ende, wenn es logisch möglich ist, sie sich größer vorzustellen.“
  • im Diskussionsforum MathOverflow – „many well-known set theorists have emphasized enormous confidence in the consistency of large cardinals, and have stated quite explicitly that if inaccessible cardinals should become known to be inconsistent, then we should expect further inconsistency much lower in ZFC itself or in the low levels of PA.“ (Siehe dort noch weitere Argumente, warum es unerreichbare Kardinalzahlen geben sollte)
[4] Theoreme von Solovay und Shelah, zitiert im Diskussionsforum MathOverflow: „Solovay and Shelah have proved that the possibility of constructing a non-Lebesgue measurable set of reals ... without using AC is exactly equivalent to the inconsistency of inaccessible cardinals.“
[5] Frank R. Drake: Set Theory. An Introduction to Large Cardinals. Amsterdam: North-Holland, 1974, S. 213 – „Silver has shown that if we can assume that there is a weakly compact cardinal, then we can assume that ℵ2 does have the tree property.“
[6] Joan Bagaria: A Short Excursion to Cantor’s Paradise (übersetzt aus dem Katalanischen) – „if there is a measurable cardinal, then all Σ12 sets of reals are Lebesgue measurable. ... all sets of real numbers appearing normally in mathematical practice are projective“
[7] Englische Wikipedia, Solovay model, Abschnitt Complements: „Shelah & Woodin (1990) showed that if supercompact cardinals exist then every set of reals in L(ℝ), the constructible sets generated by the reals, is Lebesgue measurable and has the Baire property; this includes every ,reasonably definable‘ set of reals.“
[8] Frank R. Drake: Set Theory. An Introduction to Large Cardinals. Amsterdam: North-Holland, 1974, S. 42 – „our picture of what may occur is far from complete.“

Seite erstellt am 23.10.2023 – letzte Änderung am 14.11.2024