Probleme mit Maßeinheiten für die wahrgenommene Lautstärke
Für kein anderes psychisches Phänomen wurden so viele Skalierungsversuche unternommen wie für die wahrgenommene Lautstärke.[1] Das liegt an verschiedenen Herausforderungen:
Hörsinn komplex
Bei Licht reicht es aus, jede vorkommende Frequenz (Farbe) mit einem Gewichtungsfaktor zu multiplizieren, um ein Maß für die wahrgenommene Helligkeit zu erhalten. Der Hörsinn des Menschen ist nicht so einfach gestrickt:
- Je nach Lautstärke sind die relativen Gewichtungsfaktoren unterschiedlich (d. h. die Kurven gleicher Lautstärke haben unterschiedliche Form).
- Bei gleicher Pegeldifferenz ist die empfundene Lautheitsänderung stärker, wenn der Schall lauter wird, als wenn er leiser wird.
- Töne mit nur einer einzigen Frequenz (Tonhöhe) werden deutlich leiser wahrgenommen als ein Tongemisch (z. B. Rauschen) mit demselben physikalischen Schallpegel.[2]
- Das menschliche Gehör bildet "Mittelwerte" in 24 Frequenzblöcken unterschiedlicher Breite. Doch die insgesamt wahrgenommene Lautstärke ist auch nicht einfach die Summe der Empfindungen in jedem Frequenzblock, denn die Lautheit eines Frequenzbereichs wird durch die Lautheit in benachbarten Bereichen überdeckt.[3] Tiefe Töne überdecken eher hohe Töne als umgekehrt.[4]
- Zeitlich mittelt das Gehör über ca. 180 ms. Kürzer dauernde Töne oder Geräusche (wie sie z. B. von vielen Musikinstrumenten entstehen) werden leiser wahrgenommen.[5]
- Die wahrgenommene Lautstärke eines Schalls hängt auch von der Richtung, aus der er kommt, ab. Hört man etwas mit nur einem Ohr, klingt es leiser.[6]
Alle diese Zusammenhänge müssen berücksichtigt werden, damit die wahrgenommene Lautstärke definiert und gemessen werden kann. Daher reichen einfache Gewichtungsfaktoren nicht, sondern es muss ein detailliertes Hörmodell erarbeitet und benutzt werden.
Alte und derzeit gültige Kurven gleicher Lautstärke

Quelle: Wikipedia
Neuere Hörstudien brachten deutlich andere Ergebnisse als frühere. Eine Erklärung dafür steht noch aus.
Studien schwierig
Alle Maßeinheiten, die sich auf die Wahrnehmung durch den Menschen beziehen, basieren auf Versuchen mit Testpersonen. Bei Schall ist bereits die Ermittlung der Lautstärke von reinen Tönen (die nur aus einer Frequenz bestehen) eine Herausforderung:
- Studien wurden bereits in den 1930er Jahren gemacht und darauf aufbauend wurde eine Maßeinheit für die wahrgenommene Lautstärke definiert.
- 2003 wurden die genormten Kurven gleicher Lautstärke an den neueren Forschungsstand angeglichen. Es ergaben sich überraschend große Änderungen bis zu 15 dB. (Siehe Diagramm)
Mögliche Ursachen:
- unterschiedliche oder zu wenige Versuchspersonen
- Manche Studien wurden überwiegend mit geschulten Teilnehmern, meist Kollegen des Studienleiters, durchgeführt. Oft insgesamt nicht mehr als zehn[7]
- große Unterschiede von Person zu Person[8]
- Durch Lärm in der Arbeit oder auf dem Weg zum Versuch kann sich das Hörvermögen der Versuchspersonen verändern.
- Räume können aufgrund von Resonanzen einzelne Frequenzen verstärken. Zwischen Kopfhörer und Ohr können Frequenzen über 500 Hz verstärkt werden. Lautsprecher produzieren auch nicht nur den gewollten Schall, sondern auch Obertöne (d. h. Vielfache einer Frequenz). Wenn Versuchspersonen z. B. einen 20-
Hz- Ton hören, dann hören sie womöglich in Wirklichkeit diese Obertöne oder Raumresonanzen.
Noch schwieriger ist es, die genaue Arbeitsweise des Hörsinns experimentell zu untersuchen:
- Ergebnisse entsprechender Laborversuche streuen sehr stark, obwohl sich die Wissenschaftler sehr bemühen, Störeinflüsse auszuschließen.
- Z. B. wurde der Zusammenhang zwischen Tondauer und empfundener Lautstärke in zwanzig Labors unter nahezu gleichen Bedingungen untersucht, aber die Ergebnisse waren uneinheitlich.[9]
Fazit
Man weiß inzwischen weitestgehend, was der Hörsinn alles berücksichtigt, kann es aber nicht zahlenmäßig genau beschreiben.[10]
Lautheitsmodelle ... vermögen – trotz ihrer auf der Simulation mehrerer lautheitsbestimmender Faktoren beruhenden Komplexität – häufig nicht besser die Lautheit vorherzusagen als einfache Verfahren. Dies haben Testreihen gezeigt, die subjektiv durch Hörtests ermittelte Lautheitswerte und die mit Hilfe von Lautheitsmodellen objektiv gemessene Lautheit miteinander vergleichen. So liefert das Verfahren nach ISO 532 B für natürliche Schallereignisse wie Sprache oder Musik nicht unbedingt validere Ergebnisse als eine einfache Effektivwertmessung des Schalldrucks.[11]
Kritik
In der Literatur werden die Hörversuche meist so dargestellt, als würden sie eindeutige Ergebnisse liefern.[12] Die vielfältigen Probleme und die große Bandbreite der Studienergebnisse werden kaum erörtert.
Täuschungen
In Studien wurde beobachtet:[13]
- Lkw-
Geräusche klingen lauter, wenn die Versuchsperson sieht, dass sie von einem großen Lkw stammen. - Die wahrgenommene Lautstärke von Zügen hängt von deren Farbe ab.
Meine Vermutung
- Einige Einflussgrößen dürften noch nicht bekannt bzw. im Experiment nicht 100%ig kontrollierbar sein, sonst würden die Ergebnisse unter scheinbar identischen Bedingungen nicht so stark streuen.
- Der Hörsinn ist prinzipiell ziemlich subjektiv und durch Täuschungen verzerrt. Manche Wissenschaftler verlieren sich darin, alle diese Sonderfälle in einem Modell erfassen zu wollen. Das ist aber vielleicht gar nicht nötig; auch die Maßeinheiten für Licht berücksichtigen keine optischen Täuschungen. Maßeinheiten für die menschliche Wahrnehmung sind sowieso nur Durchschnittswerte, die nicht in jedem Fall exakt zutreffen können.
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Quellen
[1] | Arne von Ruschkowski: Lautheit von Musik (PDF, 22 MB), Dissertation, S. 74 |
[2] | Mario Fresner: Untersuchung von Messmethoden zur Bestimmung eines einzelnen Lautheitswertes anhand realer Audiodaten (PDF, 5 MB), Diplomarbeit, S. 9 (im PDF S. 16) |
[3] | Arne von Ruschkowski: Lautheit von Musik (PDF, 22 MB), Dissertation, S. 64 |
[4] | Arne von Ruschkowski: Lautheit von Musik (PDF, 22 MB), Dissertation, S. 69 |
[5] | Arne von Ruschkowski: Lautheit von Musik (PDF, 22 MB), Dissertation, S. 71 |
[6] | Arne von Ruschkowski: Lautheit von Musik (PDF, 22 MB), Dissertation, S. 72 |
[7] | Arne von Ruschkowski: Lautheit von Musik (PDF, 22 MB), Dissertation, S. 59 |
[8] | Arne von Ruschkowski: Lautheit von Musik (PDF, 22 MB), Dissertation, S. 63 – "Daneben wird von großen interindividuellen Abweichungen der Kurven gleicher Lautstärke berichtet." |
[9] | Arne von Ruschkowski: Lautheit von Musik (PDF, 22 MB), Dissertation, S. 71 |
[10] | Arne von Ruschkowski: Lautheit von Musik (PDF, 22 MB), Dissertation, S. 60 |
[11] | Arne von Ruschkowski: Lautheit von Musik (PDF, 22 MB), Dissertation, S. 100 |
[12] | Arne von Ruschkowski: Lautheit von Musik (PDF, 22 MB), Dissertation, S. 97 |
[13] | Arne von Ruschkowski: Lautheit von Musik (PDF, 22 MB), Dissertation, S. 74 |