Mario Sedlak
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Argumente pro und contra Auswahlaxiom

Kein anderes Axiom der Mengenlehre hat so viel Gegenwind erfahren wie das Auswahlaxiom. Heute wird es von fast allen Mathematikern akzeptiert. Die folgenden Gegenargumente sind überwiegend historisch, tauchen aber noch vereinzelt auf. (Ich finde sie nicht überzeugend, daher habe ich sie rot hinterlegt.)

Pro Auswahlaxiom Contra Auswahlaxiom
  • Das Auswahlaxiom wurde sogar von dessen Kritikern benutzt, ohne dass sie es merkten. Das zeigt, dass es intuitiv einleuchtend ist.[1]
Das Auswahlaxiom erscheint einleuchtend, weil wir uns nur endlich viele Auswahlen vorstellen, was tatsächlich einfach ist.[2] Wir glauben, dass unendlich viele Auswahlen „genauso“ funktionieren müssten, aber dafür bräuchten wir Fähigkeiten, die wir nicht haben.[3] Bei überabzählbar vielen Auswahlen ist nicht einmal vorstellbar, wie diese definiert werden könnten. Daher kann man auf diese Weise keine Objekte „konstruieren“, die in mathematischen Beweisen verwendet werden könnten.[4]
  • Ein mathematisches Objekt kann auch dann existieren, wenn man es nicht explizit angeben kann.
In einem formalen System, wo die Existenz eines Objekts beweisbar, aber das Objekt nicht konstruierbar ist, hat das Wort „Existenz“ nicht die Bedeutung, die es haben sollte.[5] Wie kann man sagen, dass etwas existiert, obwohl wir es nie zu Gesicht bekommen können? Nur von Objekten, die man vorzeigen kann, darf man die Existenz behaupten.[6] Worüber man nicht sprechen kann, muss man schweigen (sagte schon Wittgenstein).[7]
  • Man kann das Auswahlaxiom verwenden, auch wenn man nicht (ganz) daran glaubt. – Es erscheint nützlich und bringt uns anscheinend nicht in Schwierigkeiten.
Der Grund, warum ich das Auswahlaxiom für offensichtlich falsch halte, ist, dass es uns eine Einbettung der p-adischen Zahlen in die komplexen Zahlen liefert, obwohl diese Zahlenbereiche so verschieden konstruiert sind. Und wenn man zusätzliche Eigenschaften fordert, z. B. dass definierbare Zahlen auf definierbare Zahlen abgebildet werden, dann existiert keine Einbettung.
Natürlich muss man ein bisschen vorsichtig sein, wenn man auf das Auswahlaxiom verzichtet, aber das muss man immer, wenn man verallgemeinert, da es neue Phänomene geben kann.
  • Ja, wenn es kein Auswahlaxiom gibt, können manche Dinge gerettet werden, aber es ist hässlich.[9]

Paradoxien

Pro Auswahlaxiom Contra Auswahlaxiom
  • Das Auswahlaxiom hat so viele erwünschte Folgerungen, dass es einfach dumm wäre, es allein deshalb zu verwerfen, um das Banach-Tarski-Paradoxon (Verdopplung einer Kugel nur durch Zerlegung, Drehung und Verschiebung) und unmessbare Mengen loszuwerden.
Dass das Auswahlaxiom viele elegante Konsequenzen hat, ist ein Argument dafür, es zu untersuchen, aber nicht dafür, dass es wahr ist.[10]
  • Das Banach-Tarski-„Paradoxon“ ist nicht wirklich paradox. Manche Teile, in die die erste Kugel zerlegt wird, sind nicht messbar, d. h. sie haben kein definiertes Volumen. Deswegen gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass das Volumen der Kugel erhalten bleiben muss.[11]
Niemand braucht unmessbare Mengen. Diese gibt es im realen Raum auch nicht. Die Mengenlehre mit Auswahlaxiom modelliert den realen Raum nicht richtig.
  • Wenn das Auswahlaxiom nicht gilt, können die reellen Zahlen in mehr disjunkte (elementfremde) Teilmengen zerlegt werden, als es reelle Zahlen gibt (Aufteilungsparadoxon). Das ist ein ernsteres Paradoxon als das von Banach und Tarski, denn es widerspricht jeder Vorstellung, wie Mengen funktionieren sollten.[12]
Das Aufteilungsparadoxon verschwindet, wenn man die Größe von unendlichen Mengen nicht mit injektiven, sondern mit surjektiven Funktionen vergleicht.[13] Unsere Intuition ist nicht immer verlässlich.

Meine Meinung

Ich halte die Kugelverdopplung von Banach und Tarski auch nicht für ein echtes Paradoxon, sondern für sowas Ähnliches wie die Tatsache, dass eine unendliche Menge echte Teilmengen hat, die gleich groß wie sie selbst sind. Letzteres war seinerzeit ein Argument gegen unendliche Mengen. Heute ist das als notwendige Eigenheit von unendlichen Mengen verstanden, und ich vermute, dass irgendwann auch das Banach-Tarski-Paradoxon als notwendige, aber harmlose Folge von Auswahlmöglichkeiten auf allen Mengen gesehen wird. Reale Kugeln bestehen aus Atomen und nicht aus unendlich kleinen Punkten, daher kann man reale Kugeln nicht verdoppeln.

Weiter

Varianten des Auswahlaxioms

Quellen

[1] Zermelo in einem Brief an Borel: The axiom of choice „has already been used, and successfully at that, in the most diverse fields of mathematics. ... such an extensive use of a principle can be explained only by its self-evidence.“ laut The Well-Ordering Theorem. One of the Greatest Mathematical Controversies of All Time (PDF), S. 2
[2] Ivan Khatchatourian: 11. The Axiom of Choice (PDF), S. 3 – „The Axiom of Choice seems obviously true to most people, because we imagine ourselves making choices and it seems easy. In reality, we tend to only imagine making finitely many choices, which actually is easy“.
[3] M. D. Potter laut Horst Herrlich: Axiom of Choice (PDF). Berlin: Springer, 2006, S. 7 (im PDF S. 19) – „it ascribes to us abilities which I for one am not aware of possessing.“
[4] E. Borel laut Horst Herrlich: Axiom of Choice (PDF). Berlin: Springer, 2006, S. 13 (im PDF S. 25) – „When an infinite number of choices is not denumerable, it is impossible to imagine a way of defining it, i.e., distinguishing it from an analogous infinite number of choices; thus it is impossible to regard it as a mathematical creation which can be introduced in arguments.“
[5] R. L. Goodstein laut Horst Herrlich: Axiom of Choice (PDF). Berlin: Springer, 2006, S. 6 (im PDF S. 18) – „A formal system in which ∃xG(x) is provable, but which provides no method for finding the x in question, is one in which the existential quantifier fails to fulfill its intended function.“
[6] Lebesgue laut Roderich Tumulka: Was ist dran am Auswahlaxiom? (PDF), S. 2 – „Lebesgue erklärte, nur dann könne man die Existenz gewisser Objekte behaupten, wenn man solche vorzeigen könne.“
[7] M. D. Potter laut Horst Herrlich: Axiom of Choice (PDF). Berlin: Springer, 2006, S. 7 (im PDF S. 19) – „It is dangerous to claim the existence of an object one cannot describe: ,Whereof one cannot speak thereof one must be silent‘, to hijack a slogan (Wittgenstein 1922).“
[8] Ivan Khatchatourian: 11. The Axiom of Choice (PDF), S. 3 – „Weird consequences of AC like the Banach-Tarski Paradox are often cited as reasons we should not be happy using AC. The world without AC is not described nearly as often“
[9] Ivan Khatchatourian: 11. The Axiom of Choice (PDF), S. 14 – „In this world, most of real analysis as we know it breaks down. Some things can be salvaged, but it’s ugly.“
[10] M. D. Potter laut Horst Herrlich: Axiom of Choice (PDF). Berlin: Springer, 2006, S. 7 (im PDF S. 19) – „The axiom of choice has many elegant consequences, but that is an argument for its mathematical interest, not for its truth.“
[11] Ivan Khatchatourian: 11. The Axiom of Choice (PDF), S. 14 – „The Banach-Tarski ,paradox‘ is in no way a paradox. ... when we split the sphere up into pieces ..., some of them were necessarily non measurable; they had no well-defined volume. So there is no reason to believe there should be any connection between the volume of the shape we start with and the volume of the shapes we end up with.“
[12] Alan D. Taylor und Stan Wagon: A Paradox Arising from the Elimination of a Paradox (PDF), S. 9 – „We believe that the Division Paradox should be taken as an obviously false statement because of how seriously it undermines our intuition about how sets work–even more so than the Banach-Tarski Paradox.“
[13] Alan D. Taylor und Stan Wagon: A Paradox Arising from the Elimination of a Paradox (PDF), S. 4 – „One can eliminate the Division Paradox by using a surjective definition of cardinality instead of the standard injective one.“

Seite erstellt am 22.7.2025 – letzte Änderung am 23.7.2025