Interview über Quantenphilosophie | Seite 4 von 7 | ![]() ![]() |
Peter Geißler:
Lasse ich unser Interview auf mich wirken, dann will mir vorkommen, dass Sie sich um die Unterschiedlichkeiten von Physik und Metaphysik bemühen und ich die Brückenschläge suche – ich denke, beide Anliegen sind gleichberechtigt.Worauf ich hoffe, dass Sie mit mir einer Meinung sein können, dass wir um die menschliche Perspektive nie ganz herumkommen. Damit meine ich, dass wir unserer Diskussion unser ganz persönliches Menschsein zugrunde legen, auch wenn wir uns über etwas „Drittes“, einen Gegenstand unterhalten.
Die menschliche Spezies ist von Leidenschaft durchdrungen, soll ein Dichter einmal gesagt haben. Es geht also um den emotionalen Bereich in uns allen, und da sind Physiker genauso Menschen wie alle anderen auch. Viele von ihnen reden aber nicht so gern darüber, warum sie motiviert sind, was sie motiviert. Ich denke, diese Motive haben einen sehr großen Einfluss auf die Ergebnisse.
Ich gebe Beispiele. Als erstes führe ich die berühmt gewordene Debatte zwischen einem der Quanten-
Giganten, Pauli, an. Die Briefwechsel mit Jung, einem der Großen unserer Szene, sprechen Bände und lassen einen tiefen Blick auf das schwierige emotionale Innenleben dieses Genies zu. Ein zweites Beispiel ist die ebenso berühmt gewordene Debatte zwischen Bohr und Einstein, wie sie z. B. in Manjit Kumars wundervollem Buch Quanten nachzulesen ist. In diesem Buch befindet sich eine Abbildung von Einstein und Bohr, die miteinander auf einer Straße gehen, die vom Buchautor im Unterkapitel „Einstein vergisst die Relativitätstheorie“[1] so kommentiert wird:
Einstein und Bohr, 1930 anlässlich der Solvay-Konferenz gemeinsam zu Fuß in Brüssel unterwegs. Höchstwahrscheinlich reden sie über Einsteins Gedankenexperiment, den Lichtkasten, das Bohr vorübergehend ins Hintertreffen brachte und ihn für den Fall, dass Einsteins Überlegungen zutrafen, das Ende der Physik befürchten ließ.[2]
Weiter:Das Foto zeigt Einstein und Bohr gemeinsam unterwegs, aber etwas außer Tritt. Einstein ist ein kleineres Stück voraus, als versuche er zu fliehen. Bohr, mit offenem Mund, beeilt sich, Schritt zu halten. In dem verzweifelten Bemühen, sich Gehör zu verschaffen, beugt er sich Einstein hinüber. Obwohl Bohr seinen Mantel trägt, gestikuliert er mit dem linken Zeigefinger, um zu unterstreichen, was immer er darzulegen versucht. Einsteins Hände hängen seitlich herab, die eine hält die Aktentasche, die andere eine Zigarre – möglicherweise eine Siegeszigarre. Während Einstein lauscht, kann sein Schnurrbart das selbstzufriedene Lächeln eines Mannes, der glaubt, die Oberhand gewonnen zu haben, nicht ganz verbergen.[3]Das Verblüffende an der ganzen Sache ist, dass Einstein in seinem Eifer, Bohr zu beweisen, wie sehr dieser im Irrtum lag, in seinem spitzfindigen Gedankenexperiment mit dem Lichtkasten vergessen hatte, seine eigene Schöpfung, die Relativitätstheorie, zu berücksichtigen! – eine klassische Fehlleistung also. Fehlleistungen sind, wie wir wissen, eine Folge unbewusster Emotionen und Motivationen.
Ein drittes Beispiel sind die gegenwärtigen Arbeiten von Sabine Hossenfelder. Sie befasst sich als theoretische Physikerin mit Quantengravitation und einer Physik „jenseits des Standardmodells“. In ihrer meiner Ansicht nach tiefgründigen Analyse der gegenwärtigen Physik – fußend auf Tiefeninterviews mit bedeutenden zeitgenössischen Physikern – landet sie bei einer sehr menschlichen Eigenschaft derer, die Physik betreiben: dem Hang für „das Schöne“. Ihre Analyse mündet darin, dass sich die gegenwärtige Physik deswegen in einer Sackgasse befinde, weil sie Schwierigkeiten damit habe, sich das Universum so vorzustellen, wie es ist: schön und hässlich zugleich. Das Hässliche verdrängen wir aber gern, und daher – so Hossenfelders Schluss – gelangen Physiker zu einseitigen Interpretationen ihrer Experimente.
Worauf ich hinaus will: Wissenschaftliche Objektivität mag zweifelsfrei ein notwendiges Ideal sein, jedoch sind wir in Wahrheit subjektive Wesen, als solche mehr oder weniger stark angewiesen auf Anerkennung durch andere (jedoch Bohr beispielsweise mehr als Einstein), und daher durchdringt unsere Subjektivität genauso wie unser Bewusstsein all das, was wir tun – auch unser wissenschaftliches Tun und Denken.
Mario Sedlak:
Physik und Metaphysik sind meines Erachtens zwei verschiedene Dinge, die sich zwar nicht ausschließen, die man aber nicht zu etwas Neuem, Umfassenderen zusammenfassen sollte. Ich will das mit einem Maler und einem Musiker vergleichen. Ja, beide sind „gleichberechtigt“, wenn Sie so wollen. Aber es sollte nicht der Maler dem Musiker in seine Arbeit reinreden, etwa behaupten: „Schall ist nur die halbe Welt, du musst auch malen!“
Natürlich sind auch Naturwissenschaftler Menschen, die Fehler machen und oft sogar religiös sind. Das Tolle an der empirischen Arbeitsweise ist jedoch, dass Fehler gefunden und korrigiert werden können. Sogar wenn ein „Gigant“ wie Einstein fest überzeugt war, dass Gott „nicht würfelt“, wird das widerlegt. Andere Empiriker machen nämlich kaum etwas lieber, als das zu widerlegen, was ihre Kollegen glauben. Philosophen würden das zwar auch gerne, aber ihren Schlüssen fehlt die empirische Verbindlichkeit. „Giganten“ der Philosophie werden kaum kritisiert, geschweige denn widerlegt. Deswegen finde ich die Ergebnisse der Naturwissenschaft interessanter, aber wie gesagt, Philosophieren ist nicht verboten.
Es ist theoretisch möglich, dass Philosophen die Physiker inspirieren. Das wäre dann eine Art „Brückenschlag“. In der Tat beruht die Intuition von Physikern, die neue Gesetzmäßigkeiten finden wollen, auf Ideen, wie man sich die Welt, die man nicht direkt beobachten kann, vorstellen kann. Das ist eine Art Metaphysik. Der Unterschied ist, dass die Physiker wissen, dass es sich bei ihren Modellvorstellungen um Ideen handelt und nicht unbedingt um die Wirklichkeit selbst.
Viele Gleichungen von Naturgesetzen sind schön in dem Sinne, dass sie viele verschiedene Phänomene mit verblüffend wenig Formelzeichen erklären. Diese Erfahrung treibt natürlich die Physiker an, auch für jene Bereiche, wo noch keine solche „schöne“ Gleichung bekannt ist, eine solche zu finden. Wenn Sabine Hossenfelder Recht hat, dann gibt es womöglich für gewisse Phänomene keine einfache Gleichung mit umfassender Gültigkeit. Trotzdem macht es Sinn, nach einer „schönen“ Gleichung zu suchen, denn „hässliche“ mit vielen Ausnahmen und Schwierigkeiten haben die Physiker ja bereits.
In der Mathematik musste man bereits erkennen, dass die Möglichkeiten prinzipiell begrenzt sind; z. B. lassen sich die Bewegungen von drei oder mehr Himmelskörpern nur näherungsweise berechnen (Dreikörperproblem). Eine „schöne“ Lösung in Form von drei einfachen Funktionen für die Bahnen der drei Himmelskörper ist nicht möglich.
„Einseitige Interpretationen“ kenne ich in der Physik nicht. Manche Physiker mögen einseitig denken, aber sie haben so viele Kollegen, dass kaum eine mögliche Interpretation unter den Tisch fallen kann. Natürlich sind Naturwissenschaftler generell „einseitig“, indem sie sich auf das empirisch Wissbare beschränken. Sie diskutieren nicht, ob es Engel sind, die die Planeten auf ihrer Bahn schieben, denn wenn die Engel exakt nach Newtons Gesetz arbeiten, dann braucht man ihre Existenz auch nicht annehmen („Ockhams Rasiermesser“). Die Naturwissenschaft hat nicht so sehr die Aufgabe, die Existenz von irgendetwas zu beweisen oder zu widerlegen, sondern sie will zuverlässige Modellvorstellungen, und da helfen Diskussionen, ob etwas Unbeobachtbares existiert, nicht.
Weiter
![]() | philosophische Sichtweise (Seite 5 von 7) |
Quellen
[1] | Manjit Kumar: Quanten. Einstein, Bohr und die große Debatte über das Wesen der Wirklichkeit, 2009 (amerik. Orig. 2008), S. 341ff. |
[2] | Manjit Kumar: Quanten. Einstein, Bohr und die große Debatte über das Wesen der Wirklichkeit, 2009 (amerik. Orig. 2008), Abb. 10, S. 288ff. |
[3] | Manjit Kumar: Quanten. Einstein, Bohr und die große Debatte über das Wesen der Wirklichkeit, 2009 (amerik. Orig. 2008), S. 344 |