Mario Sedlak
Ökobilanz
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Wie anstrengend ein Schritt ist, hängt davon ab, wo ich mich befinde – nicht vom durchschnittlichen Gelände in Österreich oder Europa.

Ökobilanz nach der Zuwachsbetrachtung

In Bezug auf Ökobilanzen will ich vor allem darauf hinweisen, dass die vielfach praktizierte Durchschnittsbetrachtung zu einfach ist. Um festzustellen, was wirklich passiert, wenn von einem Produkt mehr oder weniger verbraucht wird, muss man auf die Auswirkungen des Zuwachses schauen. (Das wird auch Grenzbetrachtung oder Marginalprinzip genannt.)

Mathematisch erscheint es mir (als Mathematiker) völlig klar: Zeichnet man eine Kurve, die die Umweltbelastung in Abhängigkeit von der verbrauchten Menge darstellt, dann wird die Umweltbelastung jedes zusätzlich verbrauchten (oder eingesparten) Produkts nur durch die Steigung an dem Punkt, welcher der aktuell verbrauchten Gesamtmenge entspricht, bestimmt – so wie die Steigung einer Straße an dem Punkt, wo man gerade steht, bestimmt, wie viel Kraft der nächste Schritt kostet. Für diesen nächsten Schritt ist der bisherige Straßenverlauf vollkommen unbedeutend! Die durchschnittliche Steigung kann völlig anders als die Steigung an dem aktuellen Punkt sein. Deshalb können Ökobilanzen nach der Durchschnittsbetrachtung ein vollkommen falsches Bild der Wirklichkeit ergeben.

Beispiel

Besonders große Unterschiede zwischen Durchschnitts- und Zuwachsbetrachtung gibt es bei der Ökobilanz von Strom, denn Strom wird in verschiedenen Arten von Kraftwerken erzeugt, die fast gar keine bis zu sehr viele Treibhausgase ausstoßen. Das entspricht einer Straße, die lange Zeit sehr flach ist und dann plötzlich ziemlich steil wird. Wenn man mit der durchschnittlichen Steigung rechnet, unterschätzt man den Aufwand, den der nächste Schritt bedeutet.

Nachteile

Eine Ökobilanz nach der Zuwachsbetrachtung ist deutlich aufwendiger und das Ergebnis weniger eindeutig. Es reicht nicht aus, Zahlen zusammenzutragen, sondern man braucht auch viel Sachkenntnis über den Markt und wie er auf Veränderungen reagiert. Oft muss im Modell simuliert werden. Es sollten auch Folgeeffekte berücksichtigt werden, damit das Ergebnis möglichst nahe an der Wirklichkeit ist.

Verwendung

In der Wirtschaft ist die Zuwachsbetrachtung üblich:

Betrachtet werden nicht absoluter Nutzen oder Durchschnittsnutzen, sondern die sich aus einer Handlung ergebenden kleinsten (marginalen) Nutzenveränderungen.

Um zu bestimmen, ob es sich lohnt, mit dem Auto zu einem günstigen Geschäft zu fahren, solltest du nicht die durchschnittlichen Autokosten (inkl. Fixkosten) verwenden, sondern einzig die variablen Kosten, also jene Kosten, die du mehr hast, wenn du mehr fahrst.

Anderes Beispiel: Angenommen, du hast bei deinem Handy-Vertrag 100 Freiminuten. In einem Monat hast du 101 Minuten verbraucht. Wenn sich jemand dein Handy ausgeborgt und 1 Minute benutzt hat, dann hat er in der Zuwachsbetrachtung die vollen Kosten einer Minute verursacht. Die Durchschnittsbetrachtung ergäbe nur 1/101 davon.

In Ökobilanzen werden Zuwachsbetrachtungen selten aber doch verwendet. Siehe Pessimisten über die Herkunft des Stroms für Elektroautos. In Österreich sind Beispiele solcher Ökobilanzen schwerer zu finden; am ehesten bei der Bewertung von Einsparungen an Strom (die in der Zuwachsbetrachtung besonders viel Kohlendioxid vermeiden). Manchmal wird hier einfach der Durchschnitt aus allen fossilen Kraftwerken genommen. Das ist dann eine Mischung aus Durchschnitts- und Zuwachsbetrachtung.

Kritik

In der Zuwachsbetrachtung ist die Bahn deutlich weniger sauber. Das Institut für Energie- und Umweltforschung (IFEU) Heidelberg verteidigt den Durchschnittswert:

Die Zuwachsbetrachtung ist für Maßnahmenentscheidungen seitens des Staates eindeutig anwendbar, für die Nutzung laufender Systeme umstritten[1]

Mit diesem Einwand kann ich wenig anfangen. Häufig kritisieren Ökobilanzierer die Verwendung von "hypothetischen" Szenarien in der Zuwachsbetrachtung. In dieser wird ja untersucht, welche Situation sich eingestellt hätte, wenn der Verbrauch um eine Einheit kleiner oder größer gewesen wäre. Ich entgegne dazu:

Grenzen

Die in der Zuwachsbetrachtung ermittelten Umweltwirkungen gelten nur für eine begrenzte Stückzahl. Wenn eine Straße eine 10%ige Steigung aufweist, darf man auch nicht folgern, dass die Straße nach 500 km das Weltall erreicht. Ökobilanzen nach der Zuwachsbetrachtung ändern sich – oft sprunghaft –, wenn sich die Umstände ändern. Die Zuwachsbetrachtung ist nicht geeignet, um die gesamte Umweltbelastung durch alle verkauften Einheiten zu berechnen.

Mein Fazit

Sicher ist es einfacher, Durchschnittswerte zu nehmen, aber deswegen ist es nicht richtiger. Ein Unternehmer, der so rechnet, nur weil es einfacher ist, wird wahrscheinlich in die Pleite schlittern. In Ökobilanzen ist die Durchschnittsbetrachtung oft eher Schönrechnen als Wissenschaft.

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Leben aus Sicht der Biologie

Siehe auch

Quellen

[1] IFEU: Klimaschutz – Technologie- oder Systemoptimierung. Beispiele aus dem Bereich "Transport" (PDF), 2007, S. 14

Seite erstellt am 22.1.2015 – letzte Änderung am 3.3.2017