Epigenetik
Erworbene Eigenschaften werden nicht vererbt. Das zeigte das Experiment von August Weismann im 19. Jahrhundert: Er schnitt mehr als 20 Generationen von Mäusen den Schwanz ab, aber es kamen immer wieder Mäuse mit einem normal langen Schwanz auf die Welt. Der Lamarckismus, wonach Giraffen deswegen so einen langen Hals haben, weil sie sich immer nach den Blättern auf hohen Bäumen strecken, galt damit als widerlegt.
Die gegenteilige Theorie, wonach sich die Erbanlagen im Laufe eines Lebens nicht verändern (nur zufällig durch Mutation) und die nächste Generation lediglich eine neue Kombination dieses Codes bekommt, hat sich zwar grundsätzlich gut bewährt, aber sie dürfte nicht die ganze Wahrheit enthalten. Nach der Jahrtausendwende verdichteten sich die Forschungsergebnisse, dass das Erbgut mit gewissen Zusatzinformationen an den Nachwuchs weitergegeben wird. Dadurch werden die Gene zwar nicht verändert, aber ggf. aus- oder eingeschaltet und der neue Organismus wird auf bestimmte Umweltbedingungen vorbereitet. U. U. bleibt diese "Anfangsprogrammierung" für den Rest des Lebens bestehen und wird sogar weitervererbt.
Beispiele
- Wenn Schwangere von ihren Partnern misshandelt werden, verändert sich bei ihren Kindern dauerhaft das Gen für sogenannte Glucocorticoid-
Rezeptoren, die Stresshormone wie Cortisol erkennen und Reaktionen des Gehirns vermitteln. Der Körper der Mutter scheint dem Kind zu signalisieren, dass es in einer bedrohlichen Umgebung aufwachsen wird. - Echtes Leinkraut, Tomaten und Ratten geben Chemikalien, die die Aktivität von bestimmten Genen steuern, an ihre Nachkommen weiter. Bei Ratten, die mit Pestiziden und Fungiziden vergiftet worden waren, war die abweichende Genaktivität im Sperma der nächsten vier Generationen nachweisbar.
- Es wird auch ein Zusammenhang mit Autismus vermutet.[1]
- Extreme Ereignisse wie eine Hungersnot können Gene an- oder ausschalten. Im Kriegswinter 1944/45 gab es wenig zu essen. Frauen in den Niederlanden brachten untergewichtige Kinder zur Welt. Erstaunlich ist, dass auch die Nachkommen dieser Kinder ein kleineres Geburtsgewicht hatten. Außerdem waren sowohl die Kinder als auch die Enkel anfälliger für Herz-
Kreislauf- Erkrankungen, Brustkrebs und Übergewicht. – Ich würde das aber (bis zum Beweis des Gegenteils) einfacher so erklären: In der Hungersnot kamen nur Kinder auf die Welt, die für eine schlechte Lebensmittelversorgung angepasst sind. Diese brauchen im Mutterleib weniger Ressourcen und nehmen später leichter zu (um Reserven für die nächste Hungersnot zu haben), was als Nachteil ein höheres Risiko für "Zivilisationskrankheiten" mit sich bringt. "Normale" Embryos, die für ein Leben in guten Zeiten "programmiert" sind, schafften es in der Hungersnot hingegen mit geringerer Wahrscheinlichkeit bis zur Geburt.
Mechanismus
Wie epigenetische Informationen vererbt werden, ist noch nicht ganz klar. Offenbar heften sich Moleküle entweder an der DNA-
Meine Meinung
Ich halte es für plausibel, dass wir keine "starren" Erbanlagen haben. Auch das Geschlecht eines Kindes wird nicht rein zufällig, sondern (zumindest bei Huftieren) so bestimmt, wie es in der gegebenen Situation optimal ist (im Rudel bekommen starke Tiere eher Männchen, schwache eher Weibchen). Die Natur ist nicht verpflichtet, die Vorgänge bei der Fortpflanzung einfach und überschaubar zu halten, sondern wird im Gegenteil alle Mechanismen, die den Erfolg bei der Vermehrung steigern, fördern. Die Evolutionstheorie wird durch die Epigenetik nicht widerlegt, sondern ergänzt.
Weiter
Weblinks
- Spektrum.de: Aktuelle Artikel über Epigenetik
Quellen
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[2] | Till Roenneberg: Das Recht auf Schlaf. Eine Kampfschrift für den Schlaf und ein Nachruf auf den Wecker. München: dtv, 2019 (Aus dem Engl.), S. 70 |