Physik eines Flugzeugflügels
Ich hatte schon oft Erklärungen gehört oder gelesen, warum ein Flugzeug fliegt. Etwa so in der Art:
Der Flügel ist auf der Oberseite gewölbt, sodass die Luft dort einen längeren Weg hat. Dadurch muss sie oben schneller strömen und aufgrund der Bernoulli-Gleichung entsteht dabei ein Unterdruck, der für Auftrieb sorgt.
Als ich es einmal genauer verstehen wollte, lernte ich, dass diese Erklärung vollkommen falsch ist! Zu meiner weiteren Überraschung lässt sich aber gar nicht so leicht sagen, wie der Auftrieb wirklich entsteht. Strömungslehre ist nicht so ein gut verstandenes Gebiet der Physik, wie ich geglaubt hatte.
Unerwartet schwierig zu erklären
Geht man der Frage nach, warum ein Flugzeug fliegt, stellt man fest, dass es offenbar ganz verschiedene Antworten auf diese Frage gibt. Merkwürdig daran ist, dass jede dieser Erklärungen bis zu einem gewissen Grad überzeugen kann, aber die Zusammenhänge völlig unklar bleiben.[1]
Die gängige Erklärung (und die Methoden, die in ernstzunehmenden Texten über Aerodynamik verwendet werden) zeigen alles andere als klar, wie die Strömung der Luft physikalisch an den Flügel gekoppelt ist.[2]
So richtig verstanden hat es eigentlich niemand ... Es gibt einige plausible Sachen, aber eine richtig gute Begründung ist nicht absehbar. Das merke ich, je mehr Bücher ich über Aerodynamik wälze ... dass die Leute irgendwann aufgeben und sagen: ... Es passt so zusammen, ... im Windkanal und in der ... Simulation – aber eine wirklich gute Begründung ist das alles nicht. ... So richtig 100%ig weiß keiner, warum ein Flugzeug fliegt. Man hat es ingenieurmäßig unter Kontrolle, aber so richtig verstanden, so eine schöne einfache, klare Erklärung, das ist eine andere Geschichte, das scheint nicht zu funktionieren.[3]
Der deutsche Aeroclub erteilte in 2000 einem Aerodynamik-Professor die Aufgabe, endlich einmal eine konsistente und verständliche Erklärung des Fliegens zu formulieren. Sie steht bis heute aus.
Die Erklärung des aerodynamischen Auftriebs hat eine lange Geschichte, aber es gibt bis heute Diskussionen über die zugrundeliegende Physik und ihre Beziehung zu Newtons Mechanik.[4]
Das Verhalten von echten Flugzeugflügeln in drei Dimensionen, die tatsächlich einen Abwind-Wirbel erzeugen, ist kompliziert, und wir haben keine einfachen mathematischen Lösungen, um die anliegenden Strömungen und Turbulenzen zu erklären. Über Aerodynamik gibt es noch viel zu lernen, und die verwendeten Konzepte werden immer noch diskutiert.[5]
Richtige Erklärung
Aus den vielen – oft widersprechenden – Theorien und Ansätzen habe ich folgende ausgewählt, die mir am einleuchtendsten erscheinen:
Quelle: NASA-
- Wenn die Flügelunterseite Luft nach unten ablenkt, erfährt der Flügel dadurch eine Kraft nach oben. Das ist einfach zu verstehen. (3. Newton'sches Gesetz: Zu jeder Kraft gibt es eine gleich große Gegenkraft.)
- Wenn sich der Flügel vorwärts bewegt, dann entsteht auf seiner Vorderseite Überdruck und auf der Rückseite Unterdruck – im Prinzip genauso wie bei fahrenden Autos und Lkws. Der Trick des Flugzeugflügels ist, dass seine "Rückseite" nicht senkrecht, sondern fast waagrecht ist und dadurch der Unterdruck hauptsächlich nach oben zieht, anstatt nur zu bremsen wie bei Fahrzeugen. Genauere Erklärung:
- Die Luft fließt vom Überdruck zum Unterdruck. Der Unterdruck an der Flügelkante zieht sie an, sodass sie der Kante folgt, anstatt einfach vom Flügel wegzuströmen.
- Erreicht die Luft das Ende der Tragfläche, strömt sie in der "letzten" Richtung weiter. Zeigt die Oberfläche am Ende nach unten, wird also Luft nach unten strömen.
- Genau dann, wenn der Flügel Luft nach unten ablenkt, erfährt er eine Kraft nach oben. (Wieder klar nach Newton)
Diese Erklärung lässt viele Details weg und reicht nicht aus, um konkrete Berechnungen zu machen, gibt aber meines Erachtens ein gutes Gefühl dafür, wie der Auftrieb entsteht.
Zu beachten:
- Die Erklärung gilt so nur unterhalb der Schallgeschwindigkeit.
- In Wirklichkeit ist die Strömung dreidimensional. An den Flügelspitzen entstehen Wirbel.
Auch wichtig für das Verständnis
- Die Form des Flügels ist nicht entscheidend. Eine gekrümmte Oberfläche ist nicht erforderlich. Auch eine flache Platte fliegt.
- Flügel funktionieren sogar verkehrt herum, wenn das Flugzeug mit dem Bauch nach oben fliegt.
- Die Luft muss oberhalb und unterhalb des Flügels nicht die gleiche Zeit brauchen. Wenn die Zeit nicht gleich ist, entsteht ein Wirbel.
- Dass die Luft der abfallenden Hinterkante des Flügels folgt, gilt nur bis zu einem bestimmten Winkel. Steht der Flügel steiler, dann reicht der Unterdruck nicht mehr aus und die Strömung löst sich von der Oberfläche ab ("Strömungsabriss").[6] Dadurch sinkt der Auftrieb drastisch.
- Solange der kritische Winkel nicht überschritten wird, ist der Auftrieb umso größer, je größer der Winkel ist. (Der Winkel wird "Anstellwinkel" genannt.)
- In Bodennähe ist der Auftrieb größer ("Bodeneffekt"). Die nach unten geleitete Luft prallt gewissermaßen vom Boden ab und drückt das Flugzeug noch einmal nach oben.
- Für einen ruhenden Beobachter strömt die Luft nach Verlassen des Flugzeugflügels fast senkrecht nach unten.[7] (Das ist bei einem Hubschrauber unmittelbar zu sehen. Seine Rotorblätter funktionieren wie Flugzeugflügel! Betrachtet man Flugzeugflügel im Windkanal, sieht man den Abwind hingegen kaum.)
- Auch wenn das Flugzeug in 10 km Höhe fliegt und der Abwind nicht direkt die Erdoberfläche erreicht, wird die Gewichtskraft des Flugzeugs als Druck bis zur Erdoberfläche weitergeleitet, d. h. unter einem Flugzeug steigt der Luftdruck an. (Wenn es in 10 km Höhe fliegt, verteilt sich die Kraft aber auf so ein großes Gebiet, dass der Druckanstieg nur minimal ist.)
- Grundsätzlich ist es egal, ob der Flügel sich bewegt oder die Luft – die Kräfte sind genau dieselben (zumindest in allen praxisnahen Fällen – bei völliger Reibungsfreiheit bin ich mir nicht sicher, denn wenn der Flügel stillsteht, muss die Strömung durch den Coanda-
Effekt umgelenkt werden, der nur bei Reibung wirkt, während bei Bewegung des Flügels immer Unterdruck entlang der gesamten Hinterkante auftritt).
Tipps
- Es bringt keine neuen Einsichten, wenn man einzelne Luftmoleküle betrachtet. Alle zum Verständnis nötigen Informationen sind in makroskopischen Größen wie Druck, Geschwindigkeit und Stromlinien enthalten.
- Der Flügel trifft nicht auf "ruhende Luft" (habe ich mir am Anfang falsch vorgestellt). Das wäre nur bei Überschallgeschwindigkeit so. Unter der Schallgeschwindigkeit baut sich ein Druckfeld vor dem Flügel auf und die "auftreffende" Luft kann sogar ein Stück von der Unterseite auf die Oberseite fließen. Nur so ist zu verstehen, wieso an der Vorderkante Unterdruck entstehen kann. (Dieser entsteht durch Ablenkung der strömenden Luft entlang der sich wegkrümmenden Oberfläche – siehe Coanda-
Effekt .) Eigentlich kollidiert die Luft überhaupt nicht mit dem Flügel, denn aufgrund der Reibung "klebt" die erste Luftschicht über einer Oberfläche an dieser (so wie Staub am Auto kleben bleibt, egal wie schnell man fährt).[8] Es baut sich stattdessen ein Druck auf, der so groß ist, dass ein Teilchen, das die Oberfläche tatsächlich erreicht, dort die Geschwindigkeit 0 hätte. - Strömungsdiagramme (wie das vom NASA-
Applet rechts) zeigen typischerweise weder den Abwind deutlich noch die Größe des entstehenden Wirbels. Für konkrete Zahlen siehe Flugzeugflügel in der Praxis
Weiter
Weblinks
- John S. Denker: See How It Flies – Umfangreiches (englisches) Online-
Buch mit vielen Skizzen, das eigentlich für zukünftige Piloten von Kleinflugzeugen gedacht ist, aber es wird auch die Theorie sehr klar dargestellt, z. B. wie Flugzeugflügel funktionieren. - Marco Colombini:
- Ralf Engels: Warum Flugzeuge wirklich fliegen mit Bildern von Strömung und Druckverteilung
- David F. Anderson, Scott Eberhardt: Wie sie fliegen. Eine physikalische Beschreibung von Auftrieb
- In der Wikipedia versteckt sich die richtige Erklärung, warum Tragflächen Auftrieb produzieren, unter dem Stichwort "Dynamischer Auftrieb".
Quellen
[1] | Rita Wodzinski: Wie erklärt man das Fliegen in der Schule? Versuch einer Analyse verschiedener Erklärungsmuster (PDF), Plus Lucis, 2/1999, S. 18 (im PDF S. 1) |
[2] | Jef Raskin: Coanda Effect: Understanding Why Wings Work – "The common explanation (and the methods used in serious texts on aerodynamics) are anything but clear in showing how the motion of the air is physically coupled to the wing." |
[3] | Jörn Loviscach: Auftrieb; warum ein Flugzeug fliegt (Video), ab 0:36 und ab 16:38 |
[4] | Klaus Weltner: Physics of Flight – reviewed (PDF), S. 1 – "The explanation of the aerodynamic lift has a long history, but there is controversy regarding the fundamental physics and their relation to Newton's mechanics to date" |
[5] | Peter Eastwell: Bernoulli? Perhaps, but What About Viscosity? (PDF), S. 11 – "The behaviour of real aircraft wings in three dimensions, which actually produce a vortex downward wash, is complicated, and we have no simple mathematical solutions to explain flow attachment and turbulence. There is still much to learn about aerodynamics, and the concepts involved continue to be argued." |
[6] | David F. Anderson, Scott Eberhardt: The Newtonian Description of Lift of a Wing (PDF), S. 2 |
[7] |
|
[8] | David F. Anderson, Scott Eberhardt: A Physical Description of Flight (PDF), S. 5 |