Mario Sedlak
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Falsche Anwendung der Bernoulli-Gleichung

Im Internet, im Fernsehen und sogar in Schulbüchern sowie wissenschaftlichen Zeitschriften[1] werden sehr häufig Effekte mit der Bernoulli-Gleichung erklärt, obwohl die richtige Erklärung eine andere ist.

Effekt Falsche Erklärung Richtige Erklärung
  • Bläst man über ein herunterhängendes Blatt Papier, wird dieses angehoben.

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Die sich bewegende Luft übt einen geringeren Druck aus. Der Umgebungsdruck ist höher und drückt das Papier in den Luftstrom.[2]

Wenn die Luft aus dem Mund austritt, nimmt sie sehr rasch den Umgebungsluftdruck an.[3] (Entweder sie dehnt sich aus oder sie wird vom Umgebungsdruck zusammengedrückt.)

Der beobachtete Auftrieb liegt an der gekrümmten Oberfläche des so gehaltenen Papiers. Die Luft wird quasi vom Papier angezogen (Coanda-Effekt). Da es zu jeder Kraft eine Gegenkraft gibt (3. Newton'sches Gesetz), wird genauso das Papier von der Luft angezogen, also in die Höhe gehoben. Luft wird nach unten abgelenkt, das Papier nach oben.[4]

Liegt das Papier flach am Tisch, kann kein Auftrieb erzielt werden. Auch wenn das Papier gerade nach unten hängt und auf einer Seite von oben angeblasen wird, passiert nichts Besonderes.

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  • Bläst man mit einem Fön zwischen zwei leeren Dosen, rücken diese näher zusammen.

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  • (Analog: Bläst man zwischen zwei gekrümmten Kartons durch, rücken diese zusammen.)

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Zwischen den Dosen bewegt sich die Luft besonders schnell. Daher sinkt laut Bernoulli-Gleichung der Druck. Von außen wirkt unverändert der normal hohe Umgebungsluftdruck. In Summe wirkt eine Kraft, die die Dosen zusammenrückt.

Die Luft wird von der Rückseite jeder Dose "angezogen" (Coanda-Effekt). Sie fließt ein wenig "um die Ecke". Dadurch wird sie abgelenkt. Sie verlässt die Dosen in einer anderen Richtung als die, aus der sie gekommen ist. Das heißt, es wirkt eine Kraft auf sie (1. Newtonsches Gesetz). Die gleich große Gegenkraft wirkt auf die Dosen, die in die entgegengesetzte Richtung bewegt werden.

Bringt man einen Karton auf der Rückseite der Dosen an, der das Um-die-Ecke-Fließen verhindert, oder nimmt man eckige Boxen statt Dosen, funktioniert der Effekt nicht.

Vor den Dosen kann sich die Luft ein wenig stauen, sodass der Druck zwischen ihnen laut Bernoulli-Gleichung tatsächlich ein wenig geringer sein kann – aber der Effekt ist in dem Beispiel so klein, dass er nicht entscheidend ist.

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Mit Karton wird keine Luft umgelenkt und daher entsteht keine Anziehungskraft mehr.

  • Ein Ping-Pong-Ball kann mit einem Fön so von unten angeblasen werden, dass er schwebt und die Tendenz hat, im Luftstrom zu bleiben, sogar wenn der Fön schräg gehalten wird.

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Im Luftstrom ist der Druck geringer als außerhalb. Gelangt der Ball an die Grenze des Luftstroms, wird er daher vom äußeren Luftdruck wieder hineingedrückt. Im Luftstrom ist der Druck nicht geringer als außerhalb.[5] Das kann leicht gemessen werden. Tatsächlich wird die strömende Luft von dem Ball "angezogen" (Coanda-Effekt); die Luft folgt zumindest ein Stück seiner gekrümmten Oberfläche anstatt einfach geradeaus weiterzuströmen. Die Gegenkraft dazu zieht den Ball zurück in den Luftstrom, wenn er diesen zu verlassen droht. ähnlich wie bei einer Dose (siehe oben)
  • Bei starkem Wind können Dächer von Häusern beschädigt werden.

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    Dachziegel flogen herunter.

Das Dach verengt den Querschnitt, der dem Wind zur Verfügung steht. Folglich muss über dem Dach die Geschwindigkeit zunehmen. Strömt Luft sehr schnell gegen ein Dach, so ist die Strömungsgeschwindigkeit auf der Seite des Daches besonders groß, die in Richtung der strömenden Luft liegt. Demzufolge ist dort der statische Druck (d. h. der Druck quer zur Strömungsrichtung, also in Richtung Dach) relativ klein.

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(Aus einem Schulbuch[6])

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(Anderes Schulbuch[7])

Wenn der Wind so wie gezeichnet bläst, dann wird er auf der angeblasenen Seite des Daches nach oben abgelenkt; auf das Dach wirkt daher eine Kraft nach unten. Über der Dachspitze und auf der windabgewandten Seite ist es umgekehrt: Der Wind wird vom Dach "angezogen" (Coanda-Effekt), und im Gegenzug wird das Dach nach oben gezogen. Auf der angeblasenen Seite wäre ein höherer Druck, auf der abgewandten Seite ein niedrigerer Druck.

In der Praxis ist die Situation aber komplizierter:

1. Der Wind bläst auch gegen die senkrechte Wand und wird dort nach oben abgelenkt. Wenn er das Dach erreicht, kann er trotz "Kollision" mit der horizontalen Anströmung eine Richtung, die vom Dach wegzeigt, haben. In dem Fall wird er daher vom Dach angezogen (Coanda-Effekt) und folglich spürt das Dach die dazugehörige Gegenkraft nach oben. Der mit Abstand stärkste Sog tritt an der Dachspitze auf[8] – dort ist die Umlenkung (und entsprechend der Unterdruck, durch den diese Umlenkung entsteht – siehe Coanda-Effekt) am größten.

2. An Überhängen oder Vorsprüngen kann sich der Wind zusätzlich "fangen" und hohen Druck produzieren.[9]

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Nur wenn das Dach direkt am Boden stünde, würde der Wind annähernd so wie gezeichnet strömen. Die rechte Seite stimmt auch dann nicht, weil der Wind so einer scharfen Ecke nicht wirklich folgen kann. Es entstehen stattdessen Turbulenzen.

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Mit Hauswand ist die Stromlinie des Windes zum Dach gekrümmt. Daher wirkt der Sog, der den Coanda-Effekt bewirkt, anstatt ein Staudruck.

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Wind kann sich am Vorsprung "fangen".

  • Starker Wind kann Regenschirme umstülpen.

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Über dem Regenschirm ist der Staudruck (Druck in Strömungsrichtung) wegen der höheren Geschwindigkeit größer als davor oder dahinter – und damit ist laut Bernoulli-Gleichung der statische Druck (quer zur Strömungsrichtung, also in Richtung Schirm) entsprechend kleiner. Diese Druckminderung entspricht dem Sog, den man verspürt, wenn der Wind über den Regenschirm weht und ihn schließlich umklappen lässt.

Die Windgeschwindigkeit über dem Regenschirm muss tatsächlich größer sein, aber auf den Regenschirm wirkt nicht nur der statische Druck, sondern wegen der Umlenkung des Windes auch ein Anteil Staudruck bzw. "Coanda-Kräfte"! (Siehe Coanda-Effekt)

Auf der windzugewandten Seite kann in Summe kein Auftrieb entstehen, weil die Luft nach Passieren der ganzen Vorderseite bestenfalls wieder waagrecht strömt. Erst wenn der Wind auch der abgewandten Seite folgt und er am Ende zumindest ein bisschen Richtung Erdboden strömt, kann auf den Regenschirm eine entsprechende Gegenkraft nach oben wirken.

In der Praxis kommt der Wind nicht immer genau von vorne. Gelangt eine Böe von unten in den Schirm, kann dieser leicht umgedreht werden, ohne dass das irgendetwas mit der Bernoulli-Gleichung zu tun hat.

Testet man Schirme im Windkanal, dann heben manche tatsächlich irgendwann ab.[10] Viele Schirme scheinen allerdings eher kaputtzugehen als umzuklappen,[11] evtl. weil sie von Sturm so verformt werden, dass die Luft keinen schönen Bogen mehr hat, an dem sie entlangströmen und Auftrieb erzeugen könnte. Stabilere Schirme neigen sich ein wenig in die Richtung, aus der der Wind bläst.[12] Das liegt daran, dass die Luft zuerst nach oben abgelenkt wird, dann später wieder nach unten. Entsprechend wirkt auf den ersten Abschnitt des Schirms eine Kraft nach unten und auf den restlichen Teil eine nach oben, insgesamt also ein Drehmoment. Der gleichmäßige Luftstrom im Windkanal scheint aber die meisten Schirme nicht zum Umklappen zu bringen.

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  • Ein großer Sack kann mit dem Mund schneller aufgeblasen werden, wenn man etwas Abstand zwischen seiner Öffnung und dem Mund hält.

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Die schnell ausgeatmete Luft hat einen geringeren Druck und daher wird zusätzliche Luft aus der Umgebung angesaugt.

Die schnell ausgeatmete Luft zieht Luft der Umgebung aufgrund der Reibung zwischen Luftschichten (Viskosität) mit.

Es wird zwar tatsächlich die Luft unmittelbar nach dem Ausatmen einen leichten Unterdruck haben, so wie die Bernoulli-Gleichung sagt, aber dieser Effekt ist in diesem Beispiel viel geringer als der Effekt durch das "Mitreißen" der Umgebungsluft.

Zusammenfassung

Die falschen Anwendungen der Bernoulli-Gleichung beruhen im Wesentlichen auf zwei Irrtümern:

Mein Fazit

Es ist erstaunlich, wie gut das Bernoulli-Prinzip zu passen scheint, obwohl es falsch angewandt wird. Noch erstaunlicher ist, dass das kaum jemandem auffällt. Vor allem im deutschen Sprachraum habe ich mehr falsche als richtige Erklärungen gefunden. Auf englischsprachigen Seiten sieht es besser aus. Offenbar fehlt die kritische Masse an informierten Berichten, da die Autoren gerne das wiedergeben, was auch "alle anderen" schreiben.

Kein Wunder, dass viele Leute das Gefühl haben, die Bernoulli-Gleichung nicht richtig zu verstehen![14] Wenn man so viele falsche Erklärungen hört, kann man nicht zu einem zufriedenstellenden Verständnis kommen.

Zur richtigen Deutung der Phänomene in freier Strömung helfen meist die Newton'schen Gesetze:

Weiter

Richtige Anwendung der Bernoulli-Gleichung

Weblinks

Quellen

[1] Peter Eastwell: Bernoulli? Perhaps, but What About Viscosity? (PDF), S. 2
[2]
  • Josef Schreiner: Angewandte Physik, Teil 1: Mechanik, Thermodynamik, Optik, Wien: ÖBV & HPT, 1. Auflage 2001 (ISBN 3-209-00765-9), S. 75
  • Schule 2003. Grundstock des Wissens Sekundarstufen I und II. Inkl. CD-ROM mit Testmodus und Internetlinks. Köln: Serges Medien, 2002, S. 255
[3]
[4] Fermilab: The Newtonian Description of Lift of a Wing (PDF), S. 12
[5] Fermilab: The Newtonian Description of Lift of a Wing (PDF), S. 11f.
[6] Karl Hammer, Peter Svoboda, Lutz Trieb: Physik, Band 1: Mechanik, Wärmelehre, Optik, Wien: R. Oldenbourg Verlag, 2. Auflage 1989, S. 97
[7] Josef Schreiner: Angewandte Physik, Teil 1: Mechanik, Thermodynamik, Optik, Wien: ÖBV & HPT, 1. Auflage 2001 (ISBN 3-209-00765-9), S. 76
[8] CFD Prediction on the Pressure Distribution and Streamlines around an Isolated Single-Storey House Considering the Effect of Topographic Characteristics (PDF), IOP Conf. Series: Earth and Environmental Science, 140 (2018), S. 5 (im PDF S. 6)
[9] Peter Eastwell: Bernoulli? Perhaps, but What About Viscosity? (PDF), S. 11
[10] Awnet 2m Umbrella with Weight Bags Wind Tunnel Test (Video)
[11] Ausbrella v Awnet v Imported Umbrella Wind Tunnel Comparison 2013 (Video)
[12]
[13] Klaus Weltner: Misinterpretations of Bernoulli's Law (PDF), S. 5 – "As a rule, physics textbooks neglect the treatment of normal acceleration of fluids in curved streamlines. The neglect of pressure gradients related to curved streamlines is disastrous because the mechanism producing low pressure in streaming fluids is thus made impossible to be understood."
[14]
  • Klaus Weltner: Misinterpretations of Bernoulli's Law (PDF), S. 1 – "Students and Instructors are often left with an uncomfortable feeling that the equation is clear and its predictions are verified, but the real underlying cause of the predicted pressure changes is obscure."
  • Paul G. Hewitt: Bernoulli's Principle – "Several physics teachers I've recently spoken with say their understanding of Bernoulli's principle is unclear, particularly when the principle is applied to aerodynamic lift."

Seite erstellt am 10.11.2019 – letzte Änderung am 14.3.2023